Verblaßte Mythen – Die Leistungsgesellschaft

Irgend etws machen wir falsch. In Amerika sehen wir pausenlos Tellerwäscher zu Millionären und Garagenbastler zu Milliardären aufsteigen, während unsereins zwar auch als Tellerwäscher angefangen, dann aber geheiratet hat und deshalb, wie es scheint, als Tellerwäscher enden wird. Auch in der Garage haben wir schon viel gebastelt, da basteln wir noch immer, und von den Milliarden ist nichts zu sehen.

Was also machen wir falsch? Ziemlich entscheidende Hinweise nehmen wir seit einiger Zeit von Arbeitgeberpräsidenten, renommierten Wirtschaftsjournalisten und FDP-Politikern entgegen. Satt seien wir geworden, tadeln sie, uns fehle der Leistungswille, und auch unsere Mobilität und Flexibilität lasse stark zu wünschen übrig. Wir ziehen den Kopf ein und geben zu: Das ist was dran. Als wir damals bei einer bayerischen Rundfunkanstalt unser hoffnungsvolles Journalistenleben begannen, gaben wir uns dem Wahn hin, unser Fortkommen hinge von unserer Arbeit ab, während einige Kollegen schon den Speichel bestimmter Politiker leckten, als wäre es Honig.

In der bayerischen Staatskanzlei saß damals einer mit der Stoppuhr vor dem Fernseher und hat die Sendesekunden gezählt, die sich auf schwarze und rote Politiker verteilten. Und immer, wenn ein Roter versehentlich einen Sekundenvorteil hatte, rief der Stopper beim Sender an, um sich zu beschweren. Diese Beschwerden eines einzelnen Zuschauers haben wir damals nicht so richtig ernst genommen. Die anderen Kollegen, die flexibler darauf reagierten, zogen dann ziemlich rasch an uns vorbei und sind heute so qualifiziert, daß man sie als Abteilungsleiter, Chefredakteure und Intendanten für alles und in jedem System bestens verwenden kann. Auch der Sekundenzähler hat es zum Chef gebracht.

Vielleicht wäre aus uns doch noch etwas geworden, wenn wir damals das Angebot eines großen Senders in Köln angenommen und dort flexibel auf Anrufe aus Düsseldorf reagiert hätten. Statt dessen haben wir geheiratet, Kinder gekriegt und versucht, es wenigstens jenen Politikern recht zu machen, die den Niedergang der Familie beklagen. Weil wir dachten, für eine Familie sei es am besten, wenn der Papa bei ihr bleibt, lehnten wir das Kölner Angebot ab, versagten damit schon wieder und müssen den Vorwurf mangelnder Mobilität nun leider auch noch auf uns nehmen.

So sind wir selber schuld, daß wir nun arbeitslos sind und in der Zeitung lesen, es gehe uns viel zu gut, mangelnde Mobilität und Flexibilität dürfe man nicht noch mit üppigem Arbeitslosengeld belohnen. Und daß ein Arbeitsloser eine ihm angetragene Arbeit wegen Unzumutbarkeit ablehnen und den Leistungsträgern weiter auf der Tasche liegen könne, ist eine Schande, da hat die FDP schon recht.

Wir schämen uns ein wenig und durchsuchen sofort die Stellenangebote der FAZ und der SZ nach Tellerwäscher- und Schuhputz-Offerten; sogar die Job-Börsen im Internet pflügen wir durch. Wir wissen nicht, was das ist, haben nur, ach, Theologie, Philosophie und auch sonst nichts Gescheites studiert, aber ahnen, daß es sich um eine jener Schlüsselstellungen handeln muß, von denen aus man so weit nach oben kommt, daß man automatisch zwanzigmal mehr leistet als gewöhnliche Angestellte und darum 20mal mehr verdient. Die Leute dort oben arbeiten so verdienstvoll, daß sie ihre Gehälter auch dann noch erhöhen dürfen, wenn sie nur noch rote Zahlen managen. Und wenn sie dann eine ordentliche Pleite hingelegt haben, erwartet von ihnen niemand mehr die Gepflogenheit ehrenwerter Kaufleute, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen, sondern nur die Bereitschaft, das Unternehmen unter Mitnahme einer Millionenabfindung friedlich zu verlassen.

Doch wir können nichts, schon gar nicht Key Accounts managen, darum ist die Not jetzt groß, und genau das beabsichtigt die FDP zu unser aller Nutzen, denn Not macht erfinderisch, und tatsächlich haben wir soeben die Lösung für uns gefunden. Wir werden uns autodidaktisch zum FDP-Politiker umschulen. Eine selbst angefertigte Studie hat nämlich ergeben: Politiker, insbesondere die der kleineren Parteien, besonders am Wirtschaftsstandort D, führen ein ziemlich konjunktur- und wahlergebnisunabhängiges Leben, und egal, wie es den Regierten geht, die Tröge derer, die regieren, sind immer gut gefüllt. Schlimmstenfalls wird man in ein EU-Kommissariat nach Brüssel abgeschoben.

Wir würden gerne auch zur SPD gehen, wenn wir Zeit hätten und Lust auf ewige Opposition, aber uns fehlt beides. Für die CSU wären wir nicht christlich genug, um Scheinasylanten und anderen Herbergssuchenden den Heimweg zu zeigen, außerdem fehlt uns die Phantasie, in der Wehrmacht eine humanitäre Organisation zu erkennen. Die Grünen sind dabei, ihre seit 20 Jahren gemachten Fehler als solche zu erkennen und allmählich zu korrigieren. Da wollen wir nicht stören.

Also FDP. Wären wir erst einmal gewählt, würden wir eine ungeheure Dynamik entfalten. Wir pflanzten hier ein Apfelbäumchen, legten dort den ersten Grundstein, sprängen auch mal aus den Lüften mit dem Fallschirm in die Menge und würden nicht immer köstlich, aber stets kostenlos bewirtet. So stiegen wir auf zum Abgeordneten, Staatssekretär, Minister, am liebsten zum Wirtschaftsminister, dann würde unsere Leistung darin bestehen, alle vier Wochen zu sagen: „Mehr Markt, mehr Markt, glaubt an die Selbstheilungskräfte des Marktes. ”

Als Minister wüßten zwar auch wir kein Mittel gegen Arbeitslosigkeit, Globalisierung und Ozonloch, wir stellten aber trotzdem wichtige Weichen für die Zukunft, und wenn sich dereinst erweisen sollte, daß wir die eine oder andere Weiche falsch gestellt haben, wären wir längst Verleger einer Hamburger Wochenzeitung, Vorstandsvorsitzender einer Sparkasse, Präsident einer Stiftung oder wenigstens Berater eines Energieversorgungsunternehmens. Oder wir blieben einfach Minister, wie Theo Waigel, der vor sieben Jahren den Eindruck verbreitete, die deutsche Einheit aus der Portokasse bezahlen zu können, seitdem ununterbrochen die Steuern erhöht und trotzdem nicht gehen muß.

Natürlich müssen wir noch ein wenig an uns arbeiten und beispielsweise unsere natürliche Scheu vor dem Plakatekleben überwinden. Auch mühen wir uns redlich, freiwilligen Feuerwehrkommandanten, Ehrenjungfrauen, Taubengockerern das Gefühl zu geben, daß wir sie tatsächlich ernst nehmen. Für die hohe Kunst, glaubwürdige Gürtel-enger-Schnallen-Reden zu halten, während man den eigenen Gürtel zunehmend weiter schnallt, brauchen wir allerdings noch einige Semester. Angesichts der Kosten unseres Wahlkampfs loben wir gern öffentlich den Besitzer der Aluminiumfabrik, der zwar das Grundwasser verseucht, dafür aber mit Spenden an unsere Partei die Demokratie fördert. Wir sind auch schon flexibel genug, uns mit Parteifreunden zu verbrüdern, die wir auf den Tod nicht ausstehen können und die immer genau den Posten haben möchten, um den wir gerade selber kämpfen.

Eines Tages wird dann die Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland nicht mehr umhin kommen, uns jenen Fragebogen zuzusenden, den der Schriftsteller Marcel Proust gleich zweimal ausgefüllt hat. Auf die Frage nach unserem Taum vom vollkommenen irdischen Glück werden wir dann staatsmännisch antworten, es sei der Frieden, die Frage nach dem Sterben beantworten wir mit schnell, und bei der Frage nach dem größten Fehler wird gern die Ungeduld genommen, weil dieser Fehler die FDP-Tugenden Tempo, Tatkraft, Temperament in einem Wort zusammenfaßt. Also entscheiden auch wir uns für die Ungeduld, denn von der FDP lernen heißt siegen lernen. Die Leser würden nicken, uns bei der nächsten Wahl wieder ihre Stimme geben, und wir könnten weitere vier Jahre die Weichen stellen. Warum nur sind wir erst jetzt auf die Idee gekommen?

Neben mangelnder Sprachkompetenz hat uns wohl auch eine gewisse Trägheit daran gehindert, in der Politik erfolgreich zu sein, da hat die FDP schon recht. Ein Politiker steht bekanntlich morgens schon energiegeladen zwischen fünf und sechs auf, joggt, setzt sich dann noch energiegeladener in den Dienstwagen, braust zum Regieren ins Parlament, und derweil kommt dem Hochleister die kühne Idee, daß ein Volksvertreter ja gar nicht unbedingt das ganze Volk vertreten muß. Wenn man sich nur der fünf Prozent Wohlhabenden annimmt und diese Minderheit gegen die Neidhammel in Schutz nimmt, wird man auch Minister.

Wir stehen zwar ebenfalls zwischen fünf und sechs auf, aber nur, weil die Kinder ihren Kakao verlangen. Gäben die Bälger eine Ruhe, schliefen wir durch bis neun oder zehn. Energiegeladen wären wir dann noch lange nicht, zum Joggen wäre keine Zeit mehr, und wenn wir dennoch früher aufstünden, wären wir viel zu verschlafen, um auf den Dreh zu kommen, wie man mit fünf Prozent der Stimmen die Hälfte der Macht gewinnt.

Auch sonst haben wir uns nicht so gut im Griff und würden beim Thema Lieblingsbeschäftigung womöglich antworten, die bestehe im Öffnen von Weinflaschen. Bei den Lieblingsheldinnen könnte uns leicht der Fehler unterlaufen, statt der obligatorischen Mütter, Krankenschwester, Altenpflegerinnen und der Mutter Theresa die Tänzerinnen vom Moulin Rouge zu empfehlen. Die Leser würden das als unpassend empfinden und uns zu Recht abwählen, denn wer leichtfertig die Wahrheit sagt, ist ein Sicherheitsrisiko.

Wir wären dann wieder da, wo wir jetzt schon sind, aber wenigstens könnten wir unseren Abgang mit den Worten des Satirikers Gabriel Laub verzieren und sagen: „In der Diktatur kommen die Idioten durch Gewalt und Intrigen an die Macht, in der Demokratie durch freie Wahlen. ”

Süddeutsche Zeitung, 27.0276.1997


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