Von Christian Nürnberger
Der Stier, obwohl für den Kampf gezüchtet, will gar nicht kämpfen. Damit er will, muss er gequält werden. Vor dem Kampf wird ihm daher eine Metallspitze mit Widerhaken in den Rücken gedreht. Voller Schmerz, Angst und Wut stürmt er nun in die Arena, wo ihm die Picadores und Banderilleros mit weiteren Spießen zusetzen. Das macht ihn noch aggressiver, aber auch schwächer. Damit er nicht vorzeitig aufgibt, treiben sie ihm noch mehr Spieße mit Widerhaken tief ins Fleisch. Im Wechsel zwischen Aufbäumen und Ermattung wird der Stier zu Tode gefoltert. Am Ende schneidet ihm der Torero ein Ohr als Trophäe ab.
Das klingt nicht gerade nach einer Weihnachtsgeschichte, und doch ist es eine, wie wir noch sehen werden. Erzählt worden war sie vor Jahren in einem Filmbeitrag einer längst abgesetzten ZDF-Sendung aus der Reihe „Achtung! Lebende Tiere“.
In jenem Film sah man im Publikum eine Mutter, die ihr weinendes Kind aus der Arena führte. Unter den Tausenden Zuschauern war dieses Kind das einzige Wesen, das angemessen reagierte auf das, was es sah und fühlte: Es ist nicht richtig, was da geschieht. Hätte das Kind die anderen in der Arena gefragt, warum sie zuschauen, hätte es vielleicht zu hören bekommen: ist beeindruckend, muss man mal gesehen haben, ist halt Tradition.
Wäre das Kind anschließend zu den Betreibern des Stierkampf-Business gegangen und hätte sie gefragt, warum sie tun, was sie tun, hätte der Stierzüchter gesagt, es sei nun mal sein Beruf, Stiere zu züchten, er lebe davon, und ohne Stierkampf gäbe es auch keine Stiere. Der Mann, der dem Stier vor dem Kampf den Widerhaken ins Fleisch treibt, hätte gesagt, das sei notwendig, damit der Stier kämpfe. Der Torero hätte etwas von Stolz, Ehre, Mannesmut gesagt. Der Lokalreporter hätte Hemingway ins Feld geführt, der Wissenschaftler eine Studie, in der steht, dass der Stier wegen der Ausschüttung hoher Endorphin-Mengen kaum Schmerz verspüre. Die Politiker, die den Stierkampf verbieten könnten, hätten gesagt, der gehöre nun mal zur Kultur, biete vielen Menschen Arbeitsplätze, und die große Nachfrage beweise, dass die Menschen den Stierkampf wollen. Sollen die Politiker den Menschen vorschreiben, was sie sehen dürfen?
Warum lügt ihr? Warum Krieg?
Die paar Tausend Kampfstiere haben wenigstens vor ihrem Kampf ein schönes Leben auf der Weide. Die Millionen Tiere, die auf sogenannten Bauernhöfen mit Chemiefutter gemästet, mit Hormonen gespritzt, in Käfige gezwängt, per Flugzeug, Schiff und Lastwagen durch die Welt gekarrt und in den Schlachthöfen zu Steaks, Wurst und Schinken verarbeitet werden, leiden von Geburt an. Auch hier könnte man sich ein Kind vorstellen, das die in diesem Milliarden-Business tätigen Menschen und die Konsumenten fragt, warum sie tun, was sie tun. Und wieder bekäme es erklärt, warum alles so sein muss, wie es ist. Dasselbe bekäme das Kind zu hören, wenn es die im Doping-Geschäft Tätigen nach dem Warum fragte. Dasselbe würde ihm widerfahren, wenn es die Autobauer fragte: Warum Beschiss-Software? Die Finanzvorstände der multinationalen Konzerne: Warum Briefkastenfirmen? Die Fakenews-Produzenten: Warum lügt ihr? Die Korruptis, Krieger, Terroristen und uns alle: Warum? Alle würden dem Kind einreden, dass es lernen müsse, erwachsen zu werden, die Welt sei nun mal so.
Genau dies ist der Grund, warum Gott vor zwei Jahrtausenden ein Kind geworden ist, und warum dieses Kind später, im Erwachsenenalter, gesagt hat: „… so ihr nicht umkehrt und nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“. Das Kind in der Krippe akzeptiert nicht, dass die Welt so ist und bleibt, wie sie ist.
Man muss die Geschichte vom Kind in der Krippe nicht glauben. Man kann sogar Atheist sein, die Geschichte als bloße Literatur verstehen, und wird dennoch zugeben müssen: Ja, es ist wahr, die Welt würde sich fundamental ändern, wenn wir „umkehrten“, wenn wir anfingen, die Welt so wahrzunehmen wie das Kind, das in der Stierkampfarena geweint hat.
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