Eine junge Frau, noch „kindlich und zart“
Es war am 8. Mai 1942 in Ulm. Sophie Scholl, eine junge, intelligente und lebenslustige Frau war im Aufbruch und im Reisefieber, packte voller Vorfreude ihre Koffer und konnte den nächsten Tag nicht erwarten. Der bedeutete für sie den Schritt hinaus in die Welt. Mit dem Zug würde sie von Ulm nach München reisen und dort mit ihrem Bruder Hans und dessen Freunden ihren 21. Geburtstag feiern. Und bleiben, um in München Philosophie und Biologie zu studieren.
Ein neuer, aufregender Lebensabschnitt sollte beginnen, Verlassen des Elternhauses, Erwachsenwerden, auf eigenen Füßen stehen, reisen, vielleicht heiraten, eine Familie gründen – aber vorher war die große Freiheit angesagt, Studentenleben in München, neue Freunde, neue Eindrücke, neue Herausforderungen.
Was wird die Zukunft für mich bringen? Mit dieser Frage und der ganzen in dieser Frage enthaltenen Neugier einer 21jährigen auf ihr kommendes Leben verabschiedete sie sich an ihrem Geburtstag von ihrer geliebten Familie, einerseits wehmütig, andererseits euphorisch, und in dem Wissen, dass zwischen München und Ulm ja nur zwei Stunden Bahnfahrt liegen.
„Ich sehe sie noch vor mir, meine Schwester, wie sie am nächsten Morgen dastand, reisefertig und voll Erwartung“, beschrieb Jahre später Inge Aicher-Scholl diesen Abschied. „Eine gelbe Margerite vom Geburtstagstisch steckte an ihrer Schläfe, und es sah schön aus, wie ihr so die dunkelbraunen Haare glatt und glänzend auf die Schulter fielen. Aus ihren großen dunklen Augen sah sie sich die Welt an, prüfend und doch mit einer lebhaften Teilnahme. Ihr Gesicht war noch sehr kindlich und zart.“
Wie wird sich die Person zu diesem kindlich-zarten Gesicht im Lauf der Jahre ent-wickeln und es verändern? Wo und wie wird sie ihren 25., 30., 40. Geburtstag fei-ern? Das haben sich vielleicht die Eltern gefragt, weil sich das alle Eltern fragen, deren Kinder ihr Haus verlassen.
Es gab keinen 25. Geburtstag. Es gab nicht einmal mehr einen 22. Geburtstag für Sophie Scholl.
Ungefähr ein dreiviertel Jahr nach ihrer Ankunft in München, am 22. Februar 1943, stand sie dort als Angeklagte vor Gericht. Ihr Verbrechen: Verteilung von Flugblättern. Ihr Urteil: Tod durch das Beil. Ihr Richter: Roland Freisler, Präsident des Volksgerichtshofes, der Blutrichter, der im Namen Hitlers in nur drei Jahren mehr als 5.000 Todesurteile ausgesprochen hatte, und nun eben auch eines gegen Sophie Scholl. Noch am selben Tag sauste das Fallbeil auf ihren Hals und trennte ihren Kopf vom Körper.
Auch ihr Bruder Hans und ihr Freund Christoph Probst wurden wegen desselben „Verbrechens“ mit dem Fallbeil enthauptet. Etwas später widerfuhr dieses Schicksal drei weiteren Verfassern und Verteilern von Flugblättern: Kurt Huber, Willi Graf und Alexander Schmorell.
Die Welt war aus den Fugen geraten in jener Zeit. Derjenige, der Recht sprechen sollte, saß oben in der Robe des Richters, sprach brüllend und tobend Unrecht und war ein Verbrecher. Diejenigen, die niemals hätten angeklagt werden dürfen, weil sie für das Recht kämpften, standen unten, wurden des Verbrechens bezichtigt, schuldig gesprochen und ermordet. Nicht einmal die Anwälte waren den Angeklagten eine Hilfe, sondern Teil des Blutrichter-Systems, das über einen Polizei-Apparat gebot, der nicht primär dazu da war, die Bürger vor Straftätern, sondern die staatlich bezahlten Straftäter vor den Bürgern zu schützen.
Unschuldige im Namen des Volkes zu ermorden, war legal, weil gesetzlich geregelt, also juristisch einwandfrei. Auf diese Legalität des staatlichen Mordens haben sich noch Jahrzehnte nach dem Ende der Hitlerherrschaft jene Juristen berufen, die damals, wie Freisler, solche Urteile verkündet hatten. Die meisten von ihnen kamen damit durch, wurden in der Regel noch nicht einmal zur Rechenschaft gezogen, denn dazu hätte man Staatsanwälte gebraucht, die anklagen, und Richter, die verurteilen. Das heißt aber, man hätte Staatsanwälte und Richter gebraucht, die sich selber anklagen und verurteilen, denn die Juristen, die nach dem Krieg der demo-kratischen Bundesrepublik dienen sollten, waren zum größten Teil dieselben, die vor dem Krieg Hitler gedient hatten. Das war einer der schweren Konstruktionsfehler des neuen demokratischen Staates namens Bundesrepublik Deutschland.
Gegen die Pervertierung des Rechts durch Hitler und seine Juristen, gegen den staatlich legitimierten Massenmord hatten Sophie Scholl und ihre Freunde von der „Weißen Rose“ während eines Aktionszeitraums von knapp zehn Monaten in München aufbegehrt. Mit Flugblättern gegen den Unrechtsstaat wollten sie andere zum Widerstand animieren. Sagt was, tut was, wehrt euch, steht auf, widersteht – das war die Botschaft der Flugblätter, die in München, aber auch in anderen Großstäd-ten, zwischen Juni 1942 und Februar 1943 verteilt wurden und bis nach England gelangten. Die Blätter waren schmucklos, ohne Bild, mit der Maschine getippt und vervielfältigt und trugen die Überschrift „Flugblätter der Weißen Rose“.
Noch war kein Flugblatt geschrieben, als Sophie aus Ulm im Münchner Haupt-bahnhof von ihrem Bruder Hans herzlich umarmt wurde. Noch am selben Abend sollte sie dessen Freunde kennenlernen und schnell wurde ihr klar, dass diese sich mitten in einem aufregenden Diskussionsprozess befanden, an dem sie von der ersten Minute an lebhaft Anteil nahm. Sie diskutierte engagiert mit und wurde von den jungen Männern als ebenbürtige Gesprächspartnerin ernst genommen und integriert, obwohl sie die einzige Frau ihres Kreises war, noch dazu die jüngste. Das war für die damalige Zeit keineswegs selbstverständlich, aber zeigt, wie liberal, offen, fortschrittlich in diesem Kreis ungewöhnlicher junger Deutscher gedacht und gehandelt wurde.
Das Zentrum des Freundeskreises bildeten Hans Scholl und Alexander Schmorell, zwei Medizinstudenten, 24 und 25 Jahre alt. In enger Verbindung zu den beiden standen neben Sophie zwei weitere Medizinstudenten: Christoph Probst und Willi Graf. Um diesen Kern gruppierten sich rund ein Dutzend weiterer Studenten, Stu-dentinnen, Gelehrte, Journalisten, Architekten, Maler, Schriftsteller – eine bunt gemischte Gesellschaft, die sich zwanglos in mehr oder wenigen regelmäßigen Ab-ständen im Atelier des Architekten Manfred Eickemeyer in einem Garten der Franz-Joseph-Straße traf, um sich zu unterhalten, aus verbotenen Büchern zu lesen, über die aktuelle politische Lage zu diskutieren.
Es waren freiheitsliebende, kritische, wache Menschen, von denen viele schon die eine oder andere Kollision mit dem Regime hinter sich hatten, ehe sie in München zusammenfanden und entdeckten, dass sie nicht allein sind, dass es andere gibt, Gleichgesinnte, die ähnlich denken und empfinden wie man selbst. Aus dem Glück, nicht mehr allein zu sein, wuchs gemeinsame Stärke, aus der Stärke wurde Mut.
So ist es eigentlich immer. Man wird selten als mutiger Mensch geboren. Eher ist es so, dass man durch Herkunft und Erziehung sensibel für Unrecht wird – und in der Regel zunächst schweigt, wenn man Unrecht sieht. Man registriert es, macht sich im Stillen seine Gedanken und irgendwann spricht man mit einigen wenigen, de-nen man vertraut, darüber, mit den Eltern, Geschwistern, den engsten Freunden. Dann traut man sich, im weiteren Umfeld darüber zu sprechen, und entdeckt, dass andere ähnlich empfinden, gewinnt diese als Verbündete, spricht erstmals öffent-lich das Unrecht an, gewinnt weitere Verbündete, und so bauen sich allmählich Mut und der Wille zum Widerstand auf.
So wuchs auch in Sophie Scholls Münchner Freundeskreis der Wille zum Wider-stand. Irgendwann, nach vielen Gesprächen und langen Diskussionen sprach einer aus, dass es nicht hilft, immer nur zu reden und sich untereinander einig zu sein, dass Hitler ein Verbrecher und der Nationalsozialismus eine Katastrophe ist. Das reicht nicht. Man muss etwas tun.
Aber was?
Die junge Kleinst-Truppe entwickelten eine, aus der Rückschau betrachtet, typisch jugendlich-optimistische, idealistisch-naive Idee: Durch Aufrufe und Flugblätter wollten sie den Deutschen ins Gewissen reden und sie zum Widerstand gegen Hitler anstacheln. Eine Handvoll Münchner Studenten wollte ein Millionen-Volk wach-rütteln, umdrehen, zum Aufstand überreden. Eine kleine machtlose Truppe wollte eine Macht brechen, deren Truppen von Frankreich bis Russland und von Skandi-navien bis Afrika die halbe Welt erobert hatte – wie sollte das gehen? Mit Papier gegen Panzer kämpfen, mit Kampfschriften gegen Kampfflieger, mit bloßen Worten Hitler und seinen Armeen Einhalt gebieten?
Sie glaubten ans Schneeballprinzip, die Kettenreaktion. Ein paar hundert Briefe und Flugblätter unter Studenten und normales Volk verteilt, verbunden mit der Bitte, die Briefe abzutippen und weiterzuverbreiten, so könnte es gehen, dachten sie. So muss es gehen – es war von Anfang an eine verrückte, zum Scheitern verurteilte Idee.
Und doch war es gut, dass sie es probiert haben, war es für uns alle ein Glück, dass sie sich von solch „erwachsenen“ Bedenken nicht daran hindern ließen, ihr Expe-riment zu wagen. Noch heute müssen wir ihnen dafür dankbar sein, denn sie und all die anderen, die es auch versucht hatten und auch gescheitert sind, haben ihr Leben dafür gelassen, der Welt zu beweisen, dass es neben dem übergroßen, furchterregenden, verabscheuungswürdigen Nazi-Deutschland auch noch ein anderes, wenn auch viel kleineres, liebenswertes, bewunderungswürdiges Deutsch-land gab.
Alles, was die Münchner Studenten für ihr Vorhaben brauchten, waren Kuverts, Pa-pier, eine Schreibmaschine, ein Vervielfältigungsapparat und natürlich ein biss-chen Geld für Briefmarken und Matrizen – es gab noch keine Kopierer. Alexander Schmorell war der mit dem meisten Taschengeld. Er besorgte alles. Im Atelier des Architekten Eickemeyer begannen Hans Scholl, Alexander Schmorell und Chris-toph Probst am 27. Juni, ihr erstes Flugblatt zu schreiben und zu vervielfältigen.
Ob Sophie Scholl zu diesem Zeitpunkt schon mit dabei war, wissen wir nicht. Ale-xander, Christoph und Hans waren darauf bedacht, möglichst wenige Mitwisser zu haben, denn jeder, der etwas erfahren und nicht sofort zur Polizei gegangen wäre, hätte sich strafbar gemacht. Daher halten es manche Historiker und Zeitzeugen für möglich, dass Hans zunächst versucht hatte, seine Schwester herauszuhalten, um sie nicht zu gefährden. Aber diese ließ sich offenbar nicht heraushalten, und Hans, der seine Schwester kannte, wusste, dass es auf Dauer zwecklos sein würde, zu versuchen, sie herauszuhalten. Auch sie lehnte das Regime ab, auch sie war gegen den Krieg, auch sie war leidenschaftlich dafür, etwas gegen die Nazi-Herrschaft zu unternehmen. Daher gilt es als wahrscheinlich, dass Sophie bei der zweiten, spätestens bei der dritten Flugblattaktion dabei war.
„Flugblätter der Weißen Rose“ – so waren die Aufrufe überschrieben, die nun tatsächlich durch ganz Deutschland die Runde machten und ihren Weg bis nach Eng-land fanden. Warum „Weiße Rose“? Wir wissen es nicht, wie manches andere auch nicht. Alle Unternehmungen der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ mussten unter strenger Geheimhaltung und Verschwiegenheit gemacht werden, und dieser Zwang könnte ein Grund für die Wahl des Namens gewesen sein, denn die Rose gilt seit den Römern als Sinnbild der Verschwiegenheit. Hing bei einem römischen Gastmahl eine Rose von der Decke, so verpflichtete das die Gäste zu Stillschweigen. Sie durften hinterher niemandem erzählen, was besprochen wurde.
Hans Scholl soll nach seiner Verhaftung zu Protokoll gegeben haben, der Name sei willkürlich gewählt. Er sei ihm wahrscheinlich eingefallen, nachdem er von Clemens Brentano dessen „Romanzen vom Rosenkranz“ gelesen habe. Darin gibt es die Figur der Rosablanka. Ob das so stimmt, ist unklar, denn es kann sein, dass Hans Scholl diese Version nur erfunden hat, um seine Motive verschleiern und die anderen Mitglieder zu schützen.
Eine andere Vermutung bezieht sich auf ein Buch mit dem Titel „Die weiße Rose“ von einem Autor mit dem Pseudonym B. Traven, den Hans Scholl vermutlich kannte und schätzte. In dem Roman geht es um mexikanische Farmer, die sich gegen räu-berische Praktiken von Managern eines Ölkonzerns wehren.
Auch ein Brief von Hans aus dem Jahr 1938 an seine Schwester Inge wird zitiert mit dem Satz: „In meiner Brusttasche trage ich die Knospe einer Rose. Ich brauche die-se kleine Pflanze, weil das die andere Seite ist, weit entfernt von allem Soldatentum und doch kein Widerspruch zu dieser Haltung.“
Inge Aicher-Scholl selbst steuert die Vermutung bei, dass sich die Mitglieder der Weißen Rose als „unbeschriebene und anonyme Blätter“, vielleicht auch als un-schuldig und jungfräulich beschreiben wollten, um den Empfängern ihrer Flugblät-ter die Furcht zu nehmen, in eine gefährliche Organisation verstrickt zu sein. Wenn das wirklich die Absicht gewesen sein sollte, so hat sie nicht in jedem Fall funktioniert.
Rund hundert Stück des ersten Exemplars schickten sie mit der Post an sorgfältig ausgewählte Schriftsteller, Professoren, Buchhändler aus München und Umge-bung, aber auch an Freunde und Studienkolleginnen und Studienkollegen, von denen sie sich den größten Multiplikator-Effekt erhofften. Dieser erste Versuch, et-was zu ändern, beginnt mit dem Satz: „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben erge-benen Herrscherclique regieren zu lassen.“
Dann appellieren sie mit großem Pathos an das Verantwortungsgefühl jedes Ein-zelnen, erinnern an die vom Nazi-Regime in den Staub getretene Würde, Freiheit und Individualität jedes Einzelnen, zitieren Goethe, Schiller, und lassen diese Beru-fung auf den ganzen christlich-abendländischen Bildungskanon in die Aufforde-rung münden, sich zu wehren: „Leistet passiven Widerstand – Widerstand -, wo immer Ihr auch seid, verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschi-ne, ehe es zu spät ist, ehe die letzten Städte ein Trümmerhaufen sind, gleich Köln, und ehe die letzte Jugend des Volkes irgendwo für die Hybris eines Untermen-schen verblutet ist.“
Am Ende bitten sie, „dieses Blatt mit möglichst vielen Durchschlägen abzuschreiben und weiterzuverteilen“!
Das war für die Empfänger in München und Umgebung eine Sensation, denn im ganzen Land hatte schon lange niemand mehr gewagt, solch verbotene Gedanken öffentlich auszusprechen. Jetzt hätte die Sache losgehen können. Wenn jetzt jeder der hundert Angeschriebenen zwei Kopien davon weitergeschickt hätte, wären wei-tere zweihundert Adressaten erreicht worden. Wenn diese ebenfalls mitgemacht hätten, wären es in der zweiten Runde vierhundert, in der dritten achthundert ge-wesen. Es hätte zwanzig Kopier- und Versand-Aktionen gebraucht, dann wäre praktisch jeder Deutsche vom Kind bis zum Greis und den Soldaten an der Front von dieser Aktion erreicht worden.
Aber dieser zwanzig Durchläufe hätte es gar nicht bedurft. Schon zehn Prozent, ja schon fünf Prozent eines Volkes können, wenn sie sich zusammentun, für so große Unruhe sorgen, dass sich weitere zehn Prozent auch ohne die Flugblattaktion wie von selbst anschließen, und fünfzehn bis zwanzig Prozent bilden eine genügend starke kritische Masse, um ein Regime, das bereits an allen Fronten kämpft, zu stürzen.
Fünf Prozent der Deutschen, das wären damals ungefähr drei Millionen gewesen. Um drei Millionen zu erreichen, hätten fünfzehn Durchläufe genügt. Und zehn hät-ten genügt, wenn jeder statt zwei Durchschläge drei gemacht und verschickt hätte.
Hätte, wäre … – natürlich war die Realität eine andere. Schon von den ersten hundert Angeschriebenen erfüllte ein nicht geringer Teil seine „gesetzliche Pflicht“ und rannte mit dem Flugblatt zur Polizei. Andere ließen es schnell irgendwo verschwinden und redeten nicht mehr drüber. Nur wenige sagten: Endlich regt sich was, end-lich haben ein paar Leute den Anfang gemacht, da mache ich freudig mit.
Die Mitglieder der Weißen Rose ließen sich von der geringen Resonanz nicht entmutigen. Sie schrieben das zweite, dritte und vierte Flugblatt. Jedes dieser Blätter war, gemessen an dem großen Ziel, wirkungslos. Aber auch für diese Flugblätter müssen wir dankbar sein, räumen sie doch mit der Legende auf, die noch Jahr-zehnte nach dem Krieg als Entschuldigung für Nichtstun und Mitläufertum herhalten mussten: „Wir haben ja nichts gewusst.“
Schon im zweiten Flugblatt, das im Sommer 1942 erschien, benennt die „Weiße Rose“ die „Tatsache, das seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialischste Art ermordet worden sind. … Alle männlichen Sprößlinge aus adeligen Geschlechtern zwischen 15 und 20 Jahren wurden in Konzentrationslager nach Deutschland zur Zwangsarbeit, alle Mädchen gleichen Alters nach Norwegen in die Bordelle der SS verschleppt!“
Warum haben diese Münchner Studenten gewusst, was zu jenem Zeitpunkt angeblich noch niemand wissen konnte? Weil sie es wissen wollten. Weil sie sich aktiv um Information bemühten, Soldaten befragten, die aus Polen zurückkamen, Bekannte, Verwandte und Freunde befragten, die etwas wussten oder gehört hatten. Sie sammelten Informationen und machten sich daraus ein Bild von der Wirklichkeit, von der die meisten ihrer Mitbürger nichts wissen wollten.
Man musste nicht in Polen gewesen sein, um zu sehen, wie mit Juden verfahren wurde. Seit der Reichspogromnacht, also seit 1938, konnte man wissen, dass Ju-den zu Freiwild geworden waren in diesem Land. Ab September 1939 wurden die Juden im besetzten Polen zum Tragen des Judensterns verpflichtet. Man hätte das erfahren können, wenn man Soldaten nach dem Polenfeldzug ein bisschen ausgefragt hätte. Ab dem 19. September 1941 war auch Fragen nicht mehr nötig, denn nun mussten die Juden im ganzen Deutschen Reich öffentlich jenes Zeichen tra-gen, das sie als Angehörige einer „minderwertigen Rasse“ kennzeichnete. Die soziale Ausgrenzung, Diskriminierung und Demütigung einer ganzen Bevölkerungsgruppe war nun für jedermann sichtbar.
Und sichtbar war auch, dass diese Gruppe plötzlich unsichtbar wurde. Von einem Tag auf den anderen verschwanden ganze Familien aus Häusern und Wohnun-gen, in denen sie jahrelang gewohnt hatten. Drängt sich da nicht automatisch die Frage auf: Wo sind sie? Was ist mit ihnen geschehen?
Die wenigen, die sich zu fragen trauten, begnügten sich mit der Antwort „Arbeitslager“. Arbeitslager, nun ja, das wird dann so schlimm schon nicht sein. Die Mehrheit jedoch, die gar nicht erst fragte, hatte ausdrücklich kein Interesse an der Antwort und konnte deshalb nach dem Krieg sagen, leider überhaupt nichts gewusst zu haben und darum auch nicht schuld am Judenmord zu sein. Manche derer, die nichts wussten und sich später an nichts mehr erinnern konnten, sind in die leerstehenden Judenwohnungen eingedrungen und haben sich dort bedient. Andere, Parteigenossen und Nazigrößen, eigneten sich jüdisches Eigentum ganz legal in großem Stil an und nannten den Diebstahl vornehm „Arisierung“. Daran konnten sie sich nach dem Krieg auch nicht mehr so richtig erinnern, man wusste ja nichts, man war ja von Hitler verführt und ausgenutzt, war um seine Jugend betrogen worden, war Opfer.
Die Flugblätter der „Weißen Rose“ erzählen etwas anderes. Und deshalb, um der Wahrheit willen, war es gut, dass die kleine idealistische Studentengruppe ihr nai-ves Vorhaben ins Werk gesetzt hat. „Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen, die Weiße Rose lässt Euch keine Ruhe“, hieß es im vierten Flugblatt. Die Mitschuld jener Deutschen, die still Unrecht ertrugen, anstatt es zu bekämpfen, wurde klar angesprochen.
„Was hätten wir denn tun sollen, man konnte doch nichts machen“ war ein nach dem Krieg oft gehörter Satz derer, die nichts getan hatten. Die Antwort auf diesen gern genommenen Satz steht im dritten Flugblatt der „Weißen Rose“: „Sabotage in Rüstungs- und kriegswichtigen Betrieben, Sabotage in allen Versammlungen, Kundgebungen, Festlichkeiten, Organisationen, die durch die nationalsozialistische Partei ins Leben gerufen werden. Verhinderung des reibungslosen Ablaufs der Kriegsmaschine (…). Sabotage auf allen wissenschaftlichen und geistigen Gebieten, die für eine Fortführung des gegenwärtigen Krieges tätig sind – sei es in Uni-versitäten, Hochschulen, Laboratorien, Forschungsanstalten, technischen Büros. Sabotage in allen Veranstaltungen kultureller Art, die das ‚Ansehen’ der Faschisten im Volke heben könnten. Sabotage in allen Zweigen der bildenden Künste, die nur im geringsten im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus stehen und ihm dienen. Sabotage in allem Schrifttum, allen Zeitungen, die im Solde der ‚Regierung’ stehen, für ihre Ideen, für die Verbreitung der braunen Lüge kämpfen. Opfert nicht einen Pfennig bei Straßensammlungen … Gebt nichts für die Metall-, Spinnstoff- und andere Sammlungen. Sucht alle Bekannten auch aus den unteren Volks-schichten von der Sinnlosigkeit einer Fortführung, von der Aussichtslosigkeit dieses Krieges, von der geistigen und wirtschaftlichen Versklavung durch den Nationalso-zialismus, von der Zerstörung aller sittlichen und religiösen Werte zu überzeugen und zum passiven Widerstand zu veranlassen!“
Ja, es ist eine ganze Menge, was man hätte tun können, wenn man nur halb so viel Mut gehabt hätte wie eine 21jährige Studentin aus Ulm. Die meisten der später er-mordeten Juden waren noch am Leben, als Sophie Scholl ihre Flugblätter verteilte. Die meisten Juden hätten gerettet werden können, wenn damals das Volk den Mumm gehabt hätte, Hitler zu stürzen. Auch sehr viele Soldaten, Zivilisten, Frauen, Kinder hätten den Krieg überlebt, denn sie sind erst während der letzen zehn Kriegsmonate ums Leben gekommen. In diesen letzten Monaten wurden 4,8 Millionen Menschen dahingerafft, mehr als in den fünf Kriegsjahren davor. Die meisten Städte mit ihren Kirchen, Kunstschätzen, Kulturdenkmälern und Prachtbauten wären vor ihrer Zerstörung bewahrt worden, wenn die Deutschen im Jahr 1942 auf diese junge Frau und ihre kleine Münchner Studentengruppe gehört hätten.
Es ist, als ob Sophie und ihre Freunde schon damals geahnt hatten, wie es nach dem verlorenem Krieg weitergehen würde, denn ins vierte Flugblatt schrieben sie vorsorglich hinein, dass all jene, die für die übergroße Schuld und die Verbrechen der Deutschen verantwortlich gewesen sind, nach dem Krieg bestraft werden müs-sen, auch „die kleinen Schurken dieses Systems, merkt Euch die Namen, auf dass keiner entkomme! Es soll ihnen nicht gelingen, in letzter Minute noch nach diesen Scheußlichkeiten die Fahne zu wechseln und so zu tun, als ob nichts gewesen wäre“!
Nicht aus Rache verlangten sie die schonungslose Offenlegung von Verantwortlichkeiten und die Bestrafung der Verantwortlichen nach dem Krieg, sondern aus Sorge um die Zukunft, um zu verhindern, dass sich so etwas wie die Hitlerei ein weiteres Mal wiederhole. Aus „Liebe zu kommenden Generationen muss nach Be-endigung des Krieges ein Exempel statuiert werden, dass niemand auch nur die geringste Lust je verspüren sollte, Ähnliches aufs neue zu versuchen.“
Nach diesen vier zwischen dem 27. Juni und dem 12. Juli 1942 erschienenen Flugblättern gab es zunächst keine weiteren mehr, was einen einfachen Grund hat: Hans Scholl und Alexander Schmorell hatten ihre „Front-Famulatur“ in Russland zu absolvieren. Sie waren ja Medizinstudenten, und noch heute muss jeder Medizin-student zwischen dem ersten und zweiten Abschnitt der ärztlichen Prüfung ein viermonatiges Praktikum in einem Krankenhaus oder einer Arztpraxis machen. Dieses Praktikum heißt Famulatur.
Damals, im Krieg, musste dieses Praktikum natürlich in den Lazaretten der Armee geleistet werden, und so wurden Hans und Alexander nach Russland abkomman-diert. Von Ende Juli bis Anfang November sahen sie nun mit eigenen Augen, wovon sie bisher nur gehört hatten: das Grauen des Krieges, die Toten und Verstüm-melten, die allgegenwärtige Brutalität auf beiden Seiten, Vergewaltigungen, Plün-derungen, die Bestialität des Krieges. Und sie sperrten Augen und Ohren auf, um noch mehr zu erfahren, von den Verbrechen der Wehrmacht, den willkürlichen Er-schießungen von Zivilisten, Frauen, Kindern, von der Behandlung der Russen als „Untermenschen“, und immer wieder von Juden, die zusammengetrieben wurden, um ihr Massengrab auszuheben und anschließend als Erschossene darin ver-scharrt zu werden.
Als Hans und Alexander im November aus Russland zurückkehrten wussten sie endgültig, dass Deutschland seinen wahnsinnigen Krieg gegen fast die ganze Welt nicht mehr gewinnen würde. Geahnt hatten sie es schon im März, als die deutsche Armee die Zerstörung Lübecks durch britische Bomber – das erste Flächenbom-bardement auf eine deutsche Großstadt – nicht mehr verhindern konnte. Bestärkt in dieser Ahnung wurden sie und auch viele andere, die noch bei Verstand waren, als im April aus den USA die Nachricht kam, Präsident Roosevelt wolle Truppen in den Krieg nach Europa senden. Damit war das Schicksal Deutschlands im Grunde be-siegelt.
Aber die große Mehrheit der Deutschen wollte das damals noch nicht wahrhaben. Ein zerstörtes Lübeck war für sie noch lange kein Grund, den Krieg verloren zu ge-ben. Dass wenige Monate später Köln zerstört wurde, Briten und Russen sich ge-gen Deutschland verbündeten, die USA und die Sowjetunion einen Vertrag zur ge-genseitigen Waffenhilfe und Zusammenarbeit schlossen, die Bevölkerung bereits unter Lebensmittelknappheit litt, das alles, und vieles, was noch kommen sollte, hat den Wunsch nach einem „Endsieg“ nicht zerstören können.
Waren viele auch nicht mehr so begeistert von Hitler wie noch in den Jahren zuvor, haben auch etliche im weiteren Verlauf immer schärfer erkannt, dass sie einem verbrecherischen Scharlatan gefolgt waren, so wollte dennoch die Mehrheit des Volkes von einer Niederlage nichts wissen, weil es deren Folgen fürchtete. Man wollte nicht schon wieder bestraft werden wegen eines verlorenen Krieges, obwohl ab ungefähr 1943 immer mehr ahnten, dass es sich bei den Parolen vom Endsieg nur noch um bloßes Wunschdenken handelte.
Dieses Wunschdenken eines ganzen Volkes ermöglichte Hitler und dessen Scher-gen, den Krieg fortzusetzen und, schlimmer noch, mit der im Januar 1942 auf der “Wannsee-Konferenz” in Berlin beschlossenen systematischen Vernichtung der Juden zu beginnen. Schon im März wird die Mordmaschine in Auschwitz angewor-fen. Im Juli beginnt die Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Amsterdam ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, einen Monat später die Deportation der Juden aus dem Warschauer Ghetto in das Vernichtungslager Treblinka.
Im Oktober stoppen die Alliierten den Vormarsch des Generals Rommel in Nordaf-rika. Im November kesseln die Russen Hitlers sechste Armee bei Stalingrad ein. Die Armee ist verloren, müsste eigentlich kapitulieren, aber Hitler befiehlt den Kampf bis zum letzten Mann, verheizt seine Soldaten in einem Krieg, der nicht mehr gewonnen, sondern nur noch unter großen Opfern verlängert werden kann. Berlin wird bereits von britischen Bombern angegriffen, und im Februar 1943 ist Hitlers Armee im Kessel von Stalingrad vernichtet.
Von den anfänglich rund 220.000 Soldaten kehrten nur 6.000 wieder in ihre Heimat zurück. Die anderen kamen bei den Kampfhandlungen um, erfroren, verhungerten, erlagen ihren Krankheiten oder starben in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Am Ende der Schlacht lagen in den Trümmern von Stalingrad rund 169.000 gefallene deutsche Soldaten und die Kadaver von ca. 52.000 Wehrmachtspferden. Auf russischer Seite war die Zahl der Opfer noch um ein Vielfaches höher. Man schätzt, dass ungefähr eine Million russischer Zivilisten und Soldaten ihr Leben verloren haben.
Stalingrad, dieser Wendepunkt in der deutschen Kriegführung, war auch für die Mitglieder der Weißen Rose der Anlass für ein weiteres Flugblatt, das sechste, das am 15. Februar 1943 erschien. Es ähnelte in der Tonlage dem fünften, das am 13. Januar erschienen war. Beide unterschieden sich von ersten vieren dadurch, dass sie politischer wurden, konkreter, selbstbewusster und fordernder.
Das war vermutlich eine Folge der Erlebnisse der beiden Russland-Heimkehrer Hans und Alexander. Diese hatten sich verändert. Und in Russland einen weiteren Verbündeten gewonnen: den 24jährigen Willi Graf, zu dem sie an der Ostfront einen engen Kontakt entwickelt hatten und der sich nach ihrer Rückkehr in München an ihren Aktionen beteiligte. Außerdem wurde der 49-jährige Musikwissenschaftler und Münchner Professor Kurt Huber für die Weiße Rose gewonnen.
Die in München gebliebenen Mitglieder der Weißen Rose waren während der Ab-wesenheit von Hans und Alexander nicht untätig geblieben. Im Gegenteil. Vor al-lem Sophie sorgte jetzt mit großem Engagement für die weitere Verbreitung der vier Flugblätter, was aber immer mühevoller und immer gefährlicher wurde. Bei jedem der sich häufenden Luftangriffe auf München mussten die Studenten ihre Arbeit unterbrechen und das Vervielfältigungsgerät samt Papier und Matrizen in den Keller des Ateliers oder der Buchhandlung Soehngen verstecken und danach alles wieder hoch schaffen und funktionsbereit machen.
Sophie besorgte unermüdlich Briefmarken, Kuverts, Matrizen und Papier, und weil die Münchner Gestapo (Geheime Staatspolizei) schon längst aufs Höchste alar-miert war und fieberhaft nach den Urhebern suchte, mussten Sophie und ihre Freunde äußerst vorsichtig und verschwiegen ihr Werk verrichten. Zugleich wuchs aber die Zahl der Mitwisser, weil sich immer mehr Sympathisanten anschlossen und halfen, was einerseits erfreulich war, andererseits die Gefahr der Entdeckung stark erhöhte. Sophie musste nun darauf achten, ihr Material in wechselnden Läden zu kaufen, die Briefe nicht immer in denselben Briefkasten zu werfen und nicht immer in München. Kuriere brachten die Flugblätter in andere Städte. Sophie packte sie in ihren Rucksack und pendelte damit zwischen Augsburg, Ulm und Stuttgart.
Die Flugblattaktionen der Weißen Rose hatten also Kreise gezogen, als Hans und Alexander wieder in München auftauchten. Während sie in Russland famulierten, hatte sich daheim die Geschichte der Weißen Rose in ganz Deutschland verbreitet. Es gab die Blätter jetzt in Berlin, Frankfurt, Freiburg, Hamburg, Saarbrücken, auch in Salzburg und Wien und sogar nach England, Norwegen und Schweden hatten sie ihren Weg gefunden. Und die Münchner Gestapo bildete eine Sonderkommission, aber fand nichts, denn die Studenten waren in den Weihnachtsferien nach Hause gefahren, um dort im Freundes- und Bekanntenkreis weitere Helfer und Mitstreiter zu gewinnen.
Im Januar 1943 nahmen sie ihre Arbeit wieder auf. Willi Graf beschaffte Geld und zog mit Hans und Alexander nachts los, um in München Parolen wie „Nieder mit Hitler!“ an Häuserwände zu schreiben. Graf war es auch, der Kontakte zu anderen Widerstandsgruppen knüpfte und für deren Vernetzung warb. So war er im Februar 1943 bei einem Treffen mit Falk Harnack, dessen Bruder Arvid als Kopf der Berliner Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ im Dezember 1942 hingerichtet wurde. Wegen der weiten Verbreitung der Flugblätter und der großen Bekanntheit des Namens „Weiße Rose“ dachte die Gestapo, es mit einer großen, reichsweit organisierten Untergrund-Organisation zu tun zu haben. Nicht im Traum hatten sie daran gedacht, dass dies das Werk einiger Münchner Studenten gewesen sein könnte.
Am 13. Januar 1943 entsteht das fünfte Flugblatt, an dem auch Kurt Huber mitarbeitet. Die „Weiße Rose“ wendet sich nun gegen die Illusion, dass der Krieg noch ge-wonnen werden könnte, wünscht sogar die Niederlage herbei und nimmt damit den Gedanken vorweg, dass eine militärische Niederlage als Befreiung verstanden werden muss, als Befreiung von Hitler und dessen nationalsozialistischen Diktatur. Je früher sie komme, desto besser. Daher werden die Deutschen aufgefordert, die-ser Verbrechensherrschaft bis zum bitteren Ende den Gehorsam aufzukündigen, der Parole vom „Kampf bis zum letzten Mann“ nicht mehr zu folgen.
Und dann denken die Verfasser bereits an eine Nachkriegsordnung, machen sich Gedanken über eine „Zusammenarbeit der europäischen Völker“, wenden sich ge-gen den „imperialistischen Machtgedanken“, „preußischen Militarismus“ und Zent-ralismus, fordern „eine gesunde föderalistische Staatenordnung“, die „Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses, Schutz des einzelnen Bürgers vor der Willkür verbrecherischer Gewaltstaaten“, und erstmals fällt auch das Wörtchen „Sozialis-mus“: „Die Arbeiterschaft muss durch einen vernünftigen Sozialismus aus ihrem Zustand niedrigster Sklaverei befreit werden.“
Selbstbewusst bezeichnen sie sich am Ende des Textes jetzt als „Widerstandsbewegung“ und bitten um Verbreitung ihrer Flugblätter, und Willi Graf schrieb in sein Tagebuch: „Der Stein kommt ins Rollen.“
Der Stein kam tatsächlich ins Rollen. Das neue Flugblatt wurde von Alexander, Hans, Sophie und Willi in einer Auflage von mehreren tausend Exemplaren herge-stellt. Sie mussten dafür sorgen, dass München nicht als Herstellungsort erkennbar wurde. Die Gestapo sollte überall nach den Urhebern suchen, nur nicht in Mün-chen. Alexander schaffte daher einen Teil der Flugblätter nach Salzburg, andere verteilten sie in Berlin, Sophie fuhr nach Augsburg und Ulm, und in Stuttgart über-gab sie einen Stapel an Hans Hirzel, den Bruder ihrer Freundin Susanne Hirzel.
Ein Hauch von Widerstandsgeist lag nun in der Luft. Man konnte ihn spüren, und am 13. Januar, dem Tag, an dem die Verteilung des fünften Flugblatts begonnen hatte, entlud sich dieser Geist. Auf einer Festveranstaltung aus Anlass der 470-Jahr-Feier der Münchner Universität hatte der Gauleiter der Stadt, Paul Giesler, den Studentinnen nahegelegt, lieber dem Führer ein Kind zu schenken, statt zu studieren. Weniger hübschen Mädchen versprach Giesler, ihnen einer seiner Adjutanten zuzuweisen.
Einige Studentinnen sprangen aus Zorn über diese Beleidigung auf und stürmten protestierend zum Ausgang, wo sie von SS-Männern festgenommen und abgeführt wurden. Daraufhin protestierten die im Saal anwesenden Studenten massenhaft und forderten in Sprech-Chören die Freilassung der Studentinnen. Einige holten den NS-Studentenführer vom Podium, verprügelten ihn und erklärten ihn zur Geisel, so lange, bis die Studentinnen wieder freigelassen würden.
Den versammelten Nazigrößen blieb nichts anderes mehr übrig, als aus dem Saal heraus polizeiliche Hilfe herbei zu telefonieren. Das Überfallkommando war schnell da und beendete den Tumult, was nach einem Sieg der Nazis und Wiederherstellung der alten Ordnung aussah. War es auch, aber nicht hundertprozentig. Die pro-testierenden Studentinnen wurden wieder freigelassen und wenige Tage später entschuldigte sich der Gauleiter für seine Rede. Das hätte er nicht getan, wenn er und seine Oberen sich noch so sicher im Sattel gefühlt hätten, wie sie das in den Jahren zuvor gewesen sind.
Den Mitgliedern der Weißen Rose verschaffte dieser Vorfall erstmals das Gefühl, nicht mehr machtlos zu sein. Aber Sophie war nicht euphorisch. Sophie überkam nach einer erfolgreichen Flugblattaktion immer so etwas wie eine innere Leere, die viel schwerer zu ertragen war, als der vorausgegangene Spannungszustand wäh-rend der Planung und Durchführung der Widerstandsaktionen. An jenem 13. Janu-ar, an dem so viel passiert war, schrieb sie nachts in ihr Tagebuch: „So bald ich al-lein bin, verdrängt eine Traurigkeit jede Lust zu einer Tätigkeit in mir.“
Warum war sie traurig? Über den Grund erfahren wir nichts, vielleicht wusste sie ihn selber nicht, aber wir wissen: Sophie war verliebt. In Fritz Hartnagel. Aber diese Liebe konnte nicht gelebt werden, denn Fritz war in Russland an der Front. Sophie konnte sich daher nicht einmal sicher sein, ob sie ihn überhaupt liebt, und er sie. Sie waren befreundet, als er in den Krieg zog. Konnte man überhaupt von Liebe sprechen?
Sie schrieben einander Briefe, die lange unterwegs waren, umso länger, je länger der Krieg dauerte, und nicht jeder Brief kam an. Fritz, der Berufssoldat und Offizier, musste in Russland tun, was sie, die Widerstandskämpferin verabscheute. Er wusste, was sie von seinem Beruf hielt. Sie hatte es ihm oft gesagt und später geschrie-ben. Und ihm wurde während des Krieges immer deutlicher bewusst, was ihm anfangs nicht so klar war: dass er einem Verbrecher-Regime diente.
In Sophies Briefen an ihn war viel vom Krieg und wenig von Liebe die Rede. Bitter schrieb sie ihm nach Hitlers Überfall auf Polen: „Nun werdet ihr ja genug zu tun haben. Ich kann es nicht begreifen, dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und finde es entsetzlich. Sag nicht, es ist fürs Vaterland.“
Am 22. Juni 1940 schrieb sie ganz offen und ehrlich an Fritz, dass sie sich bei völlig gegensätzlichen Auffassungen über den Krieg ein Zusammenleben mit ihm nicht vorstellen könne. Und später: „Soviel ich Dich kenne, bist Du ja auch nicht für einen Krieg, und doch tust Du die ganze Zeit nichts anderes, als Menschen für den Krieg ausbilden.“
Trotzdem blieb ihr Herz an ihm hängen, denn sie schrieb ihm immer weiter Briefe. Bis nach Stalingrad, wo Fritz Hartnagel an vorderster Front kämpfte. Von ihrer Untergrund-Tätigkeit konnte sie ihm natürlich nichts erzählen.
Am 3. Februar 1943 kam im Radio die Nachricht, die vieles änderte: Die Schlacht um Stalingrad verloren. Für die Deutschen ein Schock, für die Weiße Rose ein Zei-chen der Hoffnung, für Sophie Scholl beides. „Man konnte nur entweder für Hitler oder gegen ihn sein. War man gegen Hitler, dann durfte er diesen Krieg nicht ge-winnen“, beschrieb Hartnagel später, lange nach dem Krieg, Sophies Standpunkt, ein Standpunkt, der in sich logisch, stimmig, konsequent ist, wie Hartnagel gegen-über Sophie damals selbst hatte zugeben müssen, aber für einen Soldaten ein schwer zu akzeptierender Standpunkt. „Alles, was dem sogenannten Feind nützte und uns Deutschen schadete, das allein konnte uns die Freiheit wiederbringen“, sagte Hartnagel. Deutlicher und kürzer war die deutsche Tragödie nicht mehr zu formulieren. Niemand konnte damit glücklich sein, der Offizier nicht, die Widerstandskämpferin nicht.
Aber diese und ihre Freunde hatten nun, nach Stalingrad, das Gefühl, dass die Zeit für sie arbeite. Ein Sturz Hitlers erschien ihnen als realistische Möglichkeit, und in diesem Optimismus schrieben sie am 12. Februar ihr sechstes Flugblatt, das ihnen zur Abrechnung mit zehn Jahren Hitler-Herrschaft geriet: „Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir! … Der Tag der Abrechnung ist gekommen, der Abrechnung der deutschen Jugend mit der verabscheuungswürdigsten Tyrannis, die unser Volk je erduldet hat. Im Namen des ganzen deutschen Volkes fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut der Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen hat. … Freiheit und Ehre! Zehn lange Jahre haben Hitler und seine Genossen die beiden herrlichen deutschen Worte bis zum Ekel ausgequetscht, abgedroschen, verdreht, wie es nur Dilettanten vermögen, die die höchsten Werte einer Nation vor die Säue werfen. Was ihnen Freiheit und Ehre gilt, das haben sie in zehn Jahren der Zerstörung aller materiellen und geistigen Freiheit, aller sittlichen Substanz im deutschen Volk genugsam gezeigt.“
Vier Tage lang vervielfältigten und verteilten sie das Flugblatt. Am 18. Februar vormittags wollten Hans und Sophie möglichst viele Flugblätter in der Universität ver-teilen, denn seit dem Aufbegehren der Studenten gegen den Gauleiter Giesler gab es an der Münchner Universität so etwas wie ein Pflänzchen des Widerstands. Die-ses Pflänzchen wollten sie nähren und am Leben erhalten, damit es wachse.
Es war Donnerstag, und es war einer dieser typisch münchnerischen Vorfrühlingstage, an denen die Sonne scheint und eine laue Luft die Leute erstmals nach der Winterpause wieder in die Biergärten strömen lässt. Vielleicht, so dachten die Geschwister Scholl, machen wir uns heute einen schönen Tag, aber zuvor musste die Arbeit erledigt werden. Es galt, zwei Aktenkoffer voller Flugblätter in der Universität zu verteilen, und zwar so, dass man nicht gesehen wurde. Sie liefen durch die Gänge, während ihre Kommilitonen in den Hörsälen ihren Professoren lauschten, und verteilten auf den menschenleeren Treppen, Fensterbänken und Mauervor-sprüngen die mitgebrachten Flugblätter bis auf einen kleinen Rest. Niemand hatte sie gesehen, sie hasteten zum Ausgang, die Arbeit war erledigt.
Nun hätten sie es sich gemütlich machen und sich fragen können, was sie mit diesem sonnigen Tag anfangen. Aber sie hatten noch einen kleinen Rest von Flugblät-tern bei sich, dachten an die Mühe und Arbeit, die es gekostet hat, sie zu fabrizieren, rannten daher noch einmal zurück, um auch den Rest zu verteilen, stürmten noch einmal die Treppen hinauf, warfen ihre Blätter von oben in den Lichthof der Universität – und das war das Verhängnis.
Schon öffneten sich die Türen der Hörsäle. Sophie und Hans Scholl rasten die Treppen hinunter. Ihnen entgegen kam in großer Erregung der Pedell der Universität, der Hausmeister Jakob Schmid. Er hatte sie gesehen. „Sie sind verhaftet“, schrie er, packte beide an den Armen und führte sie zum Hausverwalter, der sie zum Rektor brachte, dem hohen SS-Führer Professor Walter Wüst. Die Gestapo saß schon in ihren Autos und fuhr Richtung Universität.
Es war vorbei.
Zunächst hatten sie noch ein bisschen Glück mit ihrem Vernehmungsbeamten, Robert Mohr, der das Verhör in einer halbwegs sachlichen Atmosphäre leitete und nicht glauben konnte, dass diese zwei harmlosen jungen Menschen tatsächlich hinter jener groß angelegten Aktion steckten, welche die Gestapo so in Atem gehalten hatte. In getrennten Verhören versuchten die beiden überzeugend darzulegen, dass sie unpolitisch seien und mit diesen Flugblättern nichts zu tun hätten. Mohr war schon fast geneigt, ihnen zu glauben, aber während er verhörte, wurden die Zimmer der beiden in der Franz-Joseph-Straße 13 durchsucht. Dort fand die Gestapo mehrere hundert neue Achtpfennig-Briefmarken – ein gefährliches Indiz, welches die beiden Verhafteten stark belastete.
Vier Tage lang wurden sie nun verhört. Mit immer mehr Beweisen und Fundstücken aus ihren Zimmern und ihrer Umgebung wurden sie konfrontiert, bis sie merkten, dass weiteres Leugnen zwecklos ist und es jetzt nur noch darum gehen könne, die anderen zu schützen und zu entlasten. Inzwischen hatte die Gestapo auch Christoph Probst verhaftet, einen Vater von drei Kindern. Daher übernahmen Hans und Sophie nun die volle Verantwortung für alles.
Dem Vernehmungsbeamten Mohr hatte diese Haltung imponiert. Nach dem Krieg berichtete er: „Sophie und Hans Scholl bewahrten beide bis zum bitteren Ende eine Haltung, die als einmalig bezeichnet werden muss. Übereinstimmend erklärten sie dem Sinne nach, sie hätten durch ihr Vorgehen nur das eine Ziel im Auge gehabt, ein noch größeres Unglück für Deutschland zu verhindern und in ihrem Teil vielleicht dazu beizutragen, hunderttausenden von deutschen Soldaten und Menschen das Leben zu retten, denn wenn das Glück oder Unglück eines großen Volkes auf dem Spiel stehe, sei kein Mittel oder Opfer zu groß, um es nicht freudig darzubringen. Sophie und Hans Scholl waren bis zuletzt davon überzeugt, dass ihr Opfer nicht umsonst sei.“
In dieser Haltung gingen Hans und Sophie, aber auch Christoph, in den Prozess mit Freisler, dessen Urteil bereits feststand. Und in dieser Haltung, mit erhobenem Haupt überstanden sie ihre letzten Stunden, denn das Urteil sollte sofort vollstreckt werden.
Auch das Gefängnis-Personal war von der Stärke dieser drei jungen Menschen beeindruckt und berichtete später: „Sie haben sich so fabelhaft tapfer benommen. Das ganze Gefängnis war davon beeindruckt. Deshalb haben wir das Risiko auf uns genommen – wäre es rausgekommen, hätte es schwere Folgen für uns gehabt -, die drei noch einmal zusammenzuführen, einen Augenblick vor der Hinrichtung. Wir wollten, dass sie noch eine Zigarette miteinander rauchen konnten. Es waren nur ein paar Minuten, aber ich glaube, es hat viel für sie bedeutet. ‚Ich wusste nicht, dass Sterben so leicht sein kann’, sagte Christi Probst. Und dann: ‚In wenigen Mi-nuten sehen wir uns in der Ewigkeit wieder.’ Dann wurden sie abgeführt, zuerst das Mädchen. Sie ging, ohne mit der Wimper zu zucken. Wir konnten alle nicht begreifen, dass so etwas möglich ist. Der Scharfrichter sagte, so habe er noch niemanden sterben sehen. Und Hans, ehe er sein Haupt auf den Block legte, rief laut, dass es durch das große Gefängnis hallte: ‚Es lebe die Freiheit.’“
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