Das Mängelwesen Mensch und seine Überwindung durch die Propheten künstlicher Intelligenz
Eine These vorweg: Die Erforschung der Künstlichen Intelligenz wird sich einmal als der umständlichste und teuerste Umweg zu einem neuen Humanismus erweisen.
In der jüngeren Weltgeschichte kommen wir nicht besonders gut weg. Seit mehr als hundert Jahren heißt es: Nicht die Krone der Schöpfung sind wir, sondern bloß Reiz-Reaktions-Mechanismen, Pawlowsche Hunde, mühsam von Ich und Über-Ich gebändigte Triebwesen, Neandertaler in Jeans oder Abendkleid, nackte Affen, Rattenseelen – man stellt diese Beleidigungen am besten ins Internet. Dort ist dann auch noch Platz für die neuesten Forschungsergebnisse von Christen/Fliege/Kiesbauer/Schreinemakers et al., die uns überwiegend als gierige, perverse, sadistische Hurenböcke und Steuerhinterzieher vorführen.
Ein Chemiker hat im vorigen Jahrhundert die chemische Zusammensetzung des Menschen bestimmt und aus den gefundenen Anteilen von Wasser, Kohlenstoff, Stickstoff etcetera den Materialwert errechnet. Er kam auf 14,64 Mark. Kein Wunder, daß dieser preiswerte Rohstoff kurze Zeit später in diversen Materialschlachten als Kanonenfutter verheizt wurde. Die Lage besserte sich, als die Chemiker herausfanden, daß die billigen Grundstoffe in unserem Körper allerlei raffinierte Säfte, Enzyme und Hormone synthetisieren, deren Herstellung im Labor ziemlich teuer käme. Ein 75-Kilo- Mensch brächte es dann auf einen Materialwert von sechs Millionen Dollar; Dicke (wegen höherer Produktionsmengen) und Frauen (wegen besonderer Hormone) auf entsprechend mehr. Ähnliche Erfahrungen machten die Mechaniker, die dachten, es müsse doch leicht und billig sein, eine Pumpe wie das menschliche Herz nachzubauen. Sie versuchen es schon ziemlich lange, aber was immer sie auch hervorbringen, wird stets teuer, pumpt nicht sehr ausdauernd und läßt das Blut verklumpen.
Das Projekt Übermensch
Solche Erkenntnisse nützen uns aber nichts. Unser Ansehen bewegt sich weiterhin auf einem konstant niedrigen Niveau. Doch Hoffnung kommt – natürlich aus Amerika. Dort weiß es nur noch keiner, und zunächst sieht es auch eher nach dem Gegenteil aus. Im Forschungslabor für Künstliche Intelligenz am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und an anderen Elite-Universitäten der USA bringen Computerwissenschaftler die Summe neuzeitlicher Menschenbilder auf den Nenner: Der Mensch ist eine Beta-Version. Der liebe Gott war leider ein Stümper und hat uns Datenverarbeitungs-Roboter ziemlich unausgereift in die Welt gesetzt.
Vielleicht lag es aber im Plan des Schöpfers, Männer wie John McCarthy, Marvin Minsky und Hans Moravec das unvollendete Projekt im 20. Jahrhundert zur Reife bringen zu lassen. Die machten sich frisch ans Werk und veranschlagten für die Entwicklung zur Alpha-Version mit Reifezeugnis rund zehn Jahre. Man verpasse einem Computer eine Videokamera, ein Mikrophon dazu, gebe jede Menge Mikroprozessoren rein sowie eine Soundkarte und man hat das Projekt Übermensch. Leider mußten die KI-Forscher erkennen, daß sich der liebe Gott in seiner Eigenschaft als Optiker doch ein paar grundlegende Gedanken über das Sehen gemacht hatte. Auch beim Versuch, dem Computer das Hören beizubringen, erwies sich der Alte als ein Akustiker, der seinen Nachahmern ein gutes Stück voraus ist. Vom Computer als Denker und Redner wollen wir erst gar nicht reden.
Obwohl die Kreaturen der KI-Forscher nach rund 40 Jahren heftigster Anstrengungen über das Stadium halbwegs funktionierender Omega-Versiönchen noch nicht hinausgekommen sind, verkünden ihre Demiurgen unerschütterlich, der große Wurf stehe unmittelbar bevor. Der Vorlauteste unter ihnen, der Österreicher Hans Moravec von der Carnegie-Mellon- Universität Pittsburgh, eine Art Schwarzenegger der KI-Forschung, verbreitet abermals seine Lieblingsthese von dem in Kürze zu erwartenden Ersatz des Menschen durch die Machine: sein Buch Mind Age soll 1997 erscheinen.
Zunächst kann das für uns Beta-Versionen ganz gemütlich werden, sagt Moravec, weil die Alphas nämlich unsere Jobs übernehmen, Steuern zahlen und diese an uns weiterleiten. Irgendwann aber, die Alphas sind ja nicht dumm, werden sie unsere Überflüssigkeit erkennen und uns dann einfach auslöschen: eine ganz natürliche Entwicklung – ‘wie bei Kindern, die als nächste und stärkere Generationen ihre Eltern verdrängen’. Tröstlich immerhin: Die Mind-Machines ‘speichern uns in ihrem Gedächtnis, und wir existieren als eine Art Simulation weiter’.
Spielen und stolpern
Die privaten und staatlichen Forschungszuschüsse für solche Vorhaben flossen stets reichlich. Und wenn sie einmal zu versiegen drohten, griff die Frankenstein-Internationale zu einem bewährten Trick und ließ einen Schachgroßmeister gegen Deep Blue antreten, den besten Schach-Computer der Welt. Anfangs ist auch das regelmäßig schiefgegangen, aber in letzter Zeit gewinnt Deep Blue immer häufiger. Die Geldgeber fallen darauf herein und schicken weitere Schecks.
Die meisten KI-Apologeten haben begriffen, daß diese Schachturniere etwas ganz anderes beweisen: unsere maßlose Überschätzung der Schachkunst. Wenn inzwischen jeder Siliziumdepp einen Großmeister schlagen kann, dann handelt es sich beim Schachspiel eben um eine jener sehr eng begrenzten Spezial-Fertigkeiten, die weniger dem Genie eignen als jenen skurrilen Menschen, die ganze Telephon- oder Kursbücher auswendig heruntersagen oder neunstellige Zahlen im Kopf multiplizieren können. Im übrigen nimmt man von solchen Leuten an, daß sie sich diese Fähigkeit mit der Unterbelichtung aller übrigen Fähigkeiten erkaufen.
So könnte die Neubewertung menschlicher Leistungen ein ungewollter Effekt der KI-Forschung sein. Wenn ein Computer demnächst mittlere Managementaufgaben übernehmen kann – woran wir nicht zweifeln -, aber auch in 50 Jahren noch nicht imstande sein wird, halbwegs ordentlich zu putzen, kochen und einzukaufen – was wir befürchten -, dann waren Manager bisher über- und Hausfrauen unterbezahlt. Und von dem Zeitpunkt an, zu dem ein Forscherteam versucht, einem Roboter beizubringen, mit einer Einkaufstasche in der einen, einem Kinderwagen an der anderen Hand ein Kleinkind und einen Hund von der Straße in die mit einem Schlüssel zu öffnende Wohnung zu bringen – von diesem Augenblick an wird man viele Tätigkeiten in ganz neuem Licht betrachten.
Schon jetzt zeichnet sich diese Umwertung der Werte ab. Denn es stellt sich heraus: Was wir Beta-Versionen ganz selbstverständlich können und tun, ohne überhaupt darüber nachzudenken – zum Beispiel gehen, stehen, hinfallen -, das fällt den in Silizium gegossenen Transistorhirnen unendlich schwer.
Was den Mikrochip-Geschöpfen das Leben zur Hölle macht, sind die Trivialitäten: Daß man bei Regen draußen naß wird und drinnen nicht; daß Hunde bellen, Bier Geld kostet und Tote selten wiederkehren – solches Alltagswissens müssen die Schöpfer ihren Geschöpfen gigabyte-weise eintrichtern. Und trotzdem fällt die Mind-Machine die Treppe hinunter und zerdeppert ihre teuren Prozessoren, weil man vergessen hat, ihr mitzuteilen, daß Treppen sowohl auf-, als auch abwärts führen können. Die Hardware mag willig sein, die Software bleibt schwach.
Einige Forscher haben inzwischen eingesehen, daß sie sich mit dem Übermensch-Projekt gewaltig überheben, und sich bescheidenere Ziele gesetzt: die Entwicklung einer künstlichen Fliege zum Beispiel. Wahrscheinlich wird das unter Aufbietung einiger tausend Mannjahre an Forschung und Entwicklung sogar gelingen. Nur bringt die Natur diese Dinger zu Tausenden aus jedem Misthaufen hervor. Und vor allem: Wenn der Nachbau endlich gelungen ist, dann wird diese künstliche Fliege größer, schwerer und ungelenker sein als das Original und spätestens nach einer Flugstunde abstürzen. Dafür hat hundert Millionen Mark gekostet.
Wenn dann jeder gelernt haben wird, was für ein Wunderwerk der Technik so eine Mistfliege ist, und plötzlich Hemmungen hat, zur Klatsche zu greifen, dann hätte sich der Aufwand trotzdem gelohnt. Wir wären dann etwa wieder auf dem Bewußtseinsstand, zu dem schon vor einigen Jahrzehnten Albert Schweitzer ganz ohne Millionen und ohne jegliche Forschung und Entwicklung gelangt war, als er sagte, er empfinde Ehrfurcht vor dem Leben.
Süddeutsche Zeitung, 11.10.1996
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