Frieden beginnt im Kiez, im Stadtteil, im Dorf

Frieden beginnt im Kiez, im Stadtteil, im Dorf
Und wieder brannte ein Flüchtlingsheim – in meiner Heimat, in Vorra, einem idyllischen Pegnitz-Dorf in jener Hersbrucker Alb, von der ich so viel Positives zu erzählen hatte. Als ich schon dachte, brennende Heime gehörten in Deutschland der Vergangenheit an, die Ausländerfeindlichkeit sei beschränkt auf den unausrottbaren braunen Bodensatz und die große Mehrheit der Deutschen sei gewillt, gemeinsam mit allen Migranten ein neues Europa aufzubauen, wurde im Dezember 2014 gemeldet, dass Unbekannte in dem 1700-Einwohner-Ort einen als Flüchtlingsunterkunft umgebauten Gasthof samt Scheune sowie ein frisch renoviertes Wohnhaus in Brand gesteckt haben. Auf ein Nebengebäude sprühten die Unbekannten eine Neonaziparole sowie zwei Hakenkreuze.
Ursprünglich hatten im Januar rund siebzig Flüchtlinge die Unterkünfte beziehen sollen. Das Dorf war darauf vorbereitet, wollte den Flüchtlingen einen freundlichen Empfang bereiten. Viele Ehrenamtliche hätten in Vorra bereitgestanden, um den Flüchtlingen zu helfen, sagte Gemeindepfarrer Björn Schukat dem Bayerischen Rundfunk. Ein schon vor Monaten gegründeter Unterstützerkreis sei bereit gewesen, die Flüchtlinge zu betreuen: »Wir waren sicherlich auch mit ein paar Bedenken behaftet, aber auf so einem guten, positiven Weg, schon fast der Vorfreude, zu sagen ›wir packen das, wir nehmen diese Herausforderung an und bieten diesen Menschen ein möglichst würdevolles Leben‹.«
Dass nun doch wieder Feuer gelegt wurde, dürfte kein Zufall gewesen sein, denn der Anschlag fiel in eine Zeit, in der in anderen Gegenden Deutschlands, besonders in Dresden, seit Monaten mit Worten gezündelt wurde von einer neuen Art von Montagsdemonstranten, die unter dem Label Pegida und »Wir-sind-das-Volk!«-Rufen offen ausländerfeindliche Stimmung verbreiteten. Pegida, diese Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes, bietet allen Politikverdrossenen, Frustrierten, Verschwörungstheoretikern und eben auch Ausländerhassern ein Forum, um ihren Ressentiments freien Lauf zu lassen. Mitten in der Adventszeit sangen sie christliche Weihnachtslieder gegen Menschen, die heute genau aus jener Gegend zu uns flüchten, in der vor zwei Jahrtausenden das hochheilige Paar mit ihrem Kind auf der Flucht war.
Schon wurde die CSU nervös und erinnerte sich des Verdikts ihres großen Vorsitzenden Franz Josef Strauß, »dass es rechts von uns keine demokratisch legitimierte Partei geben darf«. Einzelne aus der CSU forderten, die Pegida-Leute ernst zu nehmen und in einen Dialog mit ihnen zu treten. Noch deutlicher biederte sich die AfD bei ihnen an – woraus zu schließen ist: Der braune Rand ist wieder da. Daher war es sehr wichtig und gut, dass immerhin die Kanzlerin wie eine Eins stand. In ihrer Neujahrsansprache distanzierte sie sich von den Pegida-Leuten mit einer Eindeutigkeit und Klarheit, wie man sie bei ihr nur selten erlebt.
Seit fünf Jahrzehnten ist Deutschland ein Einwanderungsland. Längst lebt hier eine multiethnische, multikulturelle Gesellschaft. Die Entwicklung ist unumkehrbar. Es geht schon längst nicht mehr um die Frage, wie wir »die Ausländer wieder los werden«, sondern es geht allein um die Frage, wie Biodeutsche und Neudeutsche und Migranten gemeinsam ein Land gestalten, in dem zu leben für alle eine Lust ist. Im September 1964 war der Portugiese Armando Rodrigues als millionster Gastarbeiter in Köln-Deutz vor großem Publikum und der gesamten Presse empfangen und gefeiert worden, der Arbeitgeberverband schenkte ihm ein Moped, und die Deutschen begannen sich daran zu gewöhnen, dass sie in der Fabrik plötzlich mit Griechen, Italienern, Portugiesen, Spaniern zusammenarbeiteten. Aber ein halbes Jahrhundert danach haben wir noch immer kein Konzept, wie wir die Konflikte und Spannungen, die sich durch Einwanderung unvermeidlich ergeben, fruchtbar machen und in eine Erfolgsgeschichte für alle verwandeln können.
Aber eigentlich gibt es längst Konzepte. Sie werden nur zu selten angewandt oder sind noch zu unbekannt. Eines davon habe ich während meines Wahlkampfs 2013 in Franken kennengelernt. In Altdorf, einem hübschen Städtchen nahe Nürnberg, feierte die SPD ihr Europafest mit Türken, Griechen, Mazedoniern und Deutschen mit diesem ominösen Migrationshintergrund. Es störte nicht, dass Türken und Mazedonier noch gar nicht Mitglieder der EU sind. Aber es hieß ja auch Europafest und nicht EU-Fest, und sowieso benahmen sich einfach alle so, als sei jene Zukunft schon Gegenwart, die im gemeinsamen Fest vorweggenommen wurde: »Wir sind alle Europäer, selbstverständlich«.
Sie feierten mit und ohne Kopftuch, mit Landestracht und ohne. Die Italiener lieferten perfekte Antipasti, die Griechen Bifteki mit Zaziki, die Türken Lahmacun, die Deutschen das Bier und die Bratwürstel, und die Mazedonier tanzten. Ein Mann von der CSU war auch da, der Doktor Gerhard Beuschel, aber nicht als CSUler, sondern als Kreisvorsitzender der Europa-Union. Er veranstaltete später ein Europaquiz. Er mache das jedes Jahr, erzählte er mir, seit es dieses Fest in Altdorf gibt, es gehe ja hier nicht um Parteipolitik, sondern um »das größere Ganze«, Europa eben.
Ich erfreute mich an den Dialekten und Akzenten der in Deutschland geborenen Kinder der Italiener, Griechen und Türken – jeder spricht sein eigenes Fränkisch –, posierte vor den Kameras mit den fränkischen Türkinnen, und dabei wurde mir klar: Ja natürlich, so geht’s, nur so kann es gehen. Europa muss von unten aufgerollt werden.
In jeder deutschen Stadt, in jedem Dorf leben Deutsche und Angehörige zahlreicher europäischer und nichteuropäischer Nationen. Jede Stadt, jede Region ist ein Klein-Europa. Aber wie im Großen, so trennen auch im Kleinen allerlei unsichtbare Gräben und Barrieren die Völker voneinander: die Sprache vor allem, die Religion, die kulturellen Prägungen, die soziale Herkunft. Man lebt in derselben Stadt, aber voneinander abgeschottet, und nicht selten hat man voreinander Angst, fühlen sich Angehörige der Mehrheitsgesellschaft von Überfremdung bedroht, während sich die Minderheiten abgelehnt, ausgegrenzt, benachteiligt fühlen.
Eine gute Zukunft für alle wird es nur geben, wenn die Schranken, die an den Grenzen der EU-Länder längst verschwunden sind, auch in den Köpfen verschwinden, und das muss dort passieren, wo die Menschen wohnen. Dass man das längst weiß, davon künden jahrzehntelang bestehende Städtepartnerschaften. Aber daraus wurden hauptsächlich preisgünstige Reiseprogramme für Bürgermeister, Stadträte und Vereinsvorsitzende.
Daher ist so ein Europafest die bessere Alternative, aber mehr als ein Anfang kann es nicht sein. Wie es weitergehen könnte, davon hat mir die Kölner Journalistin Astrid Wirtz erzählt. Sie moderiert regelmäßig sogenannte Biografie-Gespräche. Deutsche und Türkeistämmige – eingewanderte Türken, Kurden, aber auch in Deutschland geborene Kinder von türkischen oder kurdischen Einwanderern – treffen sich an einem ruhigen Ort und erzählen einander ihr Leben, ein ganzes Wochenende lang. Und staunen, wie wenig sie voneinander wissen, obwohl sie schon seit Jahrzehnten, manche seit Generationen, im selben Land, in derselben Stadt wohnen. Die Kölner Journalistin hat schon mehrere solcher Gespräche moderiert und jedes Mal erfahren, wie dieses Miteinanderreden die Teilnehmer verändert.
Hier zu leben, aber nicht dazuzugehören, wie belastend das ist, davon haben vermutlich nur die wenigsten Deutschen eine Vorstellung, auch die liberalen Wohlmeinenden, Toleranten und Multikultiromantiker nicht. »Ich war noch nie in einem deutschen Wohnzimmer. Ich weiß nicht, wie es dort aussieht«, so zitiert Adina Rieckmann, eine andere Journalistin, die an solchen Gesprächen teilgenommen hatte, einen mustergültig integrierten Türken, der besser deutsch spricht als viele Deutsche und klug, charmant und beruflich erfolgreich ist. »Ich kenne viele Deutsche«, sagt dieser 39-jährige Inhaber einer Werbeagentur, »aber ich habe keinen deutschen Freund, keinen einzigen. Es ergibt sich einfach nicht. Ich bin eben der Türke. Und sie sind eben die Deutschen.«
Deutsche, sagt Astrid Wirtz, »zeigen sich überrascht, wenn sie hören, wie sehr sich viele Türkischstämmige mit Deutschland verbunden fühlen, dass sie gern dazugehören würden, aber das Gefühl haben, nicht erwünscht zu sein. Manche weinen.« Überhaupt wird oft geweint bei solchen Gesprächen. Viele erzählen ihr Leben zum ersten Mal, gießen erstmals in Worte, was Einwandererfamilien auf sich genommen und vor allem ihren Kindern zugemutet haben, um in Deutschland für eine bessere Lebensgrundlage zu arbeiten. Eine Türkin berichtete unter Tränen, dass die Eltern sie mit fünf Jahren in der Türkei bei der Oma zurückgelassen hatten – eine frühe Erfahrung, die oft ein Leben lang nachwirkt. Von einem ähnlichen Gefühl des Verlassenwerdens, ausgelöst durch ein ganz anderes Ereignis, erzählt dann eine deutsche Richterin. Bei ihr war es der frühe Tod ihres Vaters.
Ähnlichkeiten und Unterschiede entdecken die Gesprächsteilnehmer bei den Entwurzelungsgeschichten. Dass Entwurzelung auch eine deutsche Erfahrung ist, nämlich jener, die als Kinder mit ihren Eltern nach dem Krieg aus Ostpreußen, Pommern, dem Sudetenland in den Westen geflüchtet oder vertrieben worden sind, war vielen Türkischstämmigen neu. Für diejenigen, die schon davon gehört hatten, war es eine neue Erfahrung, Deutsche davon erzählen zu hören. Der kulturelle Unterschied zwischen den Vertriebenen und den Westdeutschen war natürlich geringer als der zwischen Türken und Deutschen, aber Fremdheitsgefühle, Trauer über die verlorene Heimat, Sehnsucht nach der Heimat und das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wohin man gehört, nirgendwo mehr richtig beheimatet zu sein, das sind Erfahrungen, die beiden Gruppen vertraut sind.
Überrascht zeigen sich Türkischstämmige auch, wenn sie hören, wie ärmlich die Jugend der Deutschen nach dem Krieg verlaufen war. Mit Staunen vernehmen sie, welch große Bedeutung konfessionellen Unterschieden im Deutschland der 50er und 60er Jahre beigemessen wurde, und dass es problematisch war, jemand von der anderen Konfession zu heiraten oder vor der Ehe schwanger zu werden. Für die Deutschen wiederum ist es eine neue Erkenntnis, dass Türken, die gut Deutsch sprechen, dafür nicht gerne von Deutschen gelobt werden möchten, weil sie dieses vermeintliche Kompliment als Ausweis des Nichtdazugehörens empfinden.
Solche Biografiegespräche sind kein christlich-islamischer Dialog, wie er gern von Kirchen veranstaltet wird mit Funktionären, Honoratioren und Glaubensbeamten beider Konfessionen, die einander – meist vor Publikum – ein paar Stunden höflich zuhören und danach unverändert wieder auseinandergehen. In Biografiegesprächen reden nicht Profis in offizieller Funktion miteinander, sondern normale Menschen, die voll und ganz bei der Sache sind in einem geschützten Raum, in dem die Moderatoren für ein Gesprächsklima sorgen, das alle ermutigt, sich zu öffnen, aus sich herauszugehen, sich den anderen anzuvertrauen.
Entwickelt haben sich diese Biografiegespräche über einen langen Zeitraum aus »normalen« Gesprächen, an dessen Beginn der heute 70-jährige Axel Schmidt-Gödelitz steht. Er war unter Günter Gaus Referent der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Berlin (Ost) und hatte für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Kairo und Peking gearbeitet. 1992 kaufte er von der Treuhand das alte Hofgut Gödelitz zurück, das vor der DDR-Zeit seiner Familie gehört hatte. Er richtete das heruntergekommene Anwesen wieder her, machte daraus ein offenes Haus, Gäste aus Ost und West kamen, sprachen miteinander, und bald schon merkte der Hausherr, wie fremd die Deutschen Ost und die Deutschen West einander sind, wie vorurteilsbeladen und oft verständnislos jede Gruppe auf die jeweils andere regiert. Diese Fremdheit, dachte sich Schmidt-Gödelitz, muss abgebaut werden, wenn die Einheit, wenn Deutschland gelingen soll. Eine Organisationsstruktur, ein Verein muss her, der sich um dieses Problem kümmert, und so wurde 1998 der Verein Ost-West-Forum Gut Gödelitz e.V. gegründet.
Der Verein lud zu Vorträgen, Diskussionen, und als Kern schälte sich etwas heraus, was dieses Gut Gödelitz zu einem besonderen Ort macht: die Ost-West-Biografiegespräche. In einer kleinen Gruppe, die ein ganzes Wochenende miteinander verbringt, erzählen die höchstens zwölf Teilnehmer – die eine Hälfte aus dem Osten, die andere aus dem Westen, Frauen und Männer aus unterschiedlichen Altersgruppen, mit verschiedenen Berufen und Sichtweisen – einander ihr Leben. Jeder kann seine Erinnerungen so einbringen, wie er sie mit sich herumträgt, aus dem Kontext seines damaligen Denkens und Handelns heraus. Die werden von den anderen angehört und bleiben unkommentiert stehen. Keine Diskussion über Gut oder Böse, Richtig oder Falsch. Nur Verständnisfragen sind zugelassen.
Anfangs hat Axel Schmidt-Gödelitz diese Gespräche selbst moderiert, inzwischen hat er sich mehrere Moderatoren herangezogen, die paarweise moderieren, immer einer aus dem Osten und einer aus dem Westen. Diese Gespräche erwiesen sich als so fruchtbar, nachhaltig und für die Teilnehmer beglückend, dass ein »Kind« daraus hervorging: die deutsch-türkischen Biografiegespräche. Die gibt es nun seit 2009 und werden auf eine breitere Basis gestellt, auch finanziell, da hilft inzwischen die Robert-Bosch-Stiftung. Das ermöglicht dem Gödelitzer Verein, Moderatoren auszubilden und die Zahl der Gesprächskreise zu vervielfachen. Die gibt es inzwischen auch schon länger in Saarbrücken, Konstanz und Berlin. Im März 2012 startete Köln, im November 2012 kam Ulm dazu, und zwischen 2013 und 2014 folgten Stuttgart, Mannheim, Freiburg, Friedrichshafen, Karlsruhe, Hamburg, Frankfurt, Bremen und das Ruhrgebiet.
Schon jetzt kann als Ergebnis genannt werden: Spontane Freundschaften sind entstanden, auch diverse berufliche Verbindungen wurden geknüpft, ärztliche Hilfe organisiert, sogar Jobs und Wohnungen vermittelt sowie Nachhilfe für die eigenen Kinder aus dem Kreis der Teilnehmer organisiert. Veranstaltungen im eigenen Berufsfeld, Konzerte und Theaterabende werden kommuniziert, deutsch-türkische Events vorbereitet.
Vielleicht entstehen solche Gesprächskreise auch einmal mit anderen Migranten. Vielleicht reisen Deutsche, Türken, Griechen, Armenier, Mazedonier, Kroaten, Serben, Italiener, Spanier irgendwann gemeinsam jedes Jahr in ein anderes Herkunftsland, nachdem sie zuvor in Gesprächskreisen, Vereinen, Schulen, Kirchen, religiösen Gemeinden diese Reise vorbereitet haben, um das Folkloristische und Touristische hinter sich zu lassen und sich den alten und neuen Konflikten zuzuwenden. Vielleicht vergleichen sie untereinander die verschiedenen Geschichtsbücher, mit denen heute in den Schulen der verschiedenen Länder unterrichtet wird. Was steht in den griechischen Büchern über die Konflikte mit der Türkei, und was in den türkischen? Warum wissen wir Deutschen halbwegs Bescheid über die Verbrechen der Wehrmacht in Russland und Polen, aber kaum etwas über deren Verbrechen in Italien und Griechenland?
Wäre es möglich, Türken und Armenier zusammenzubringen, damit sie über das sprechen, was die Armenier als Völkermord bezeichnen und die Türken als Erfindung der Armenier? Man könnte Wissenschaftler kommen lassen, die das erforschen, Zeitzeugen hören, Filme gucken. Es wäre gut, wenn Serben, Kroaten, Bosnier, Albaner, Mazedonier, Ungarn dabei wären und anfingen, über ihre historischen und gegenwärtigen Konflikte zu reden, und wenn dabei herauskäme, was Nationalismus und religiöser Fanatismus angerichtet haben in Europa. Es wäre ein Volksbildungsprogramm mit dem Ziel, den mündigen Europäer hervorzubringen. Nur mit mündigen Europäern wird Europa eine gute Zukunft haben, und nur mit Europäern, die bereit sind, einander zu helfen und füreinander einzustehen.
Auch dieses Helfen und Solidarischsein muss unten eingeübt werden, im Dorf, in der Stadt, in der Region. Beginnen könnte man mit dem Versuch, einander bei der Lösung der Alltagsprobleme zu helfen, die jeder hat – Jobsuche, Wohnungssuche, Kinderbetreuung und mit erster Hilfe für die Schwächsten. In jeder Stadt, in jedem Ort leben sogenannte bildungsferne Schichten, meistens Migrantenfamilien, deren Kinder Hilfe brauchen, zum Beispiel bei den Hausaufgaben, und deren Müttern jemand die Angst vor unserem Land nehmen müsste. Ihnen zu helfen, wäre ein weiterer Ansatzpunkt für eine europäische Integration auf lokaler Ebene. Und es geschieht ja vielfach auch schon an vielen Orten seit vielen Jahren. Ende des Jahres 2014 gewann ich sogar den Eindruck, dass die unter dem Namen Pegida artikulierte Hetze gegen Flüchtlinge unter vielen Deutschen eine Gegenreaktion ausgelöst hat. Sie gehen nicht nur gegen Pegida auf die Straße, sondern organisieren Hilfe für Flüchtlinge und heißen sie willkommen.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür, wie so eine Hilfe aussehen und wie hocheffizient sie sein kann, hat schon vor einigen Jahren der bekannte Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer erzählt. Beim Durchstöbern niedersächsischer Statistiken war ihm aufgefallen, dass in zwei Städten, nämlich in Oldenburg und in Hannover, die Zahl der Gewaltdelikte von Jugendlichen mit Migrationshintergrund signifikant gesunken ist. In Hannover machten außerdem noch überdurchschnittlich viele Ausländerkinder den Hauptschulabschluss oder sogar die Mittlere Reife und Abitur. Da hat der Kriminologe natürlich bei den Bürgermeistern der beiden Städte angerufen und gefragt: Wie viele Millionen habt ihr in Bildungs- und Integrationsprojekte reingebuttert?
Mit einem aufsehenerregenden Bildungs- oder Integrationsprojekt konnte der Bürgermeister von Oldenburg jedoch nicht dienen. Nicht einmal mit einer größeren Summe aus dem Etat für Integration. Es gab und gibt kein Projekt oder Programm dieser Art. Er habe lediglich die Schuldirektoren der Stadt zusammengetrommelt, erzählte der Bürgermeister dem Kriminologen, und sie gebeten, doch bitte auf die deutschen Eltern einzuwirken, dass zu Kindergeburtstagen auch Migrantenkinder eingeladen werden. Die Eltern hielten sich daran. Die kleine Maßnahme erwies sich als so effektiv, dass sie sich schon bald in der Gewaltstatistik niedergeschlagen hatte. Und: Sie kostete die Stadt keinen Cent.
Auch der Bürgermeister von Hannover hatte kein teures Vorzeigeprojekt vorzuweisen, sondern eigentlich nur den Buchhändler Otto Stender und dessen Ehefrau Johanna. Beide hatten jahrelang mit angesehen, wie ein Politiker nach dem anderen viel Geld für die Lösung von Integrationsproblemen versprach oder gar ausgab, aber kaum Fortschritte erzielte. Also begannen sie, das Problem auf ihre Weise zu lösen, billig, effizient, erfolgreich und genial einfach. Ihre Lösung lautete: Ein Erwachsener und ein Kind lesen einen Text und unterhalten sich darüber. Das ist auch schon alles.
Die Stenders baten deshalb um ein paar Termine bei verschiedenen Schuldirektoren, erläuterte ihnen ihr Konzept, und dann konnte es losgehen. Ein Erwachsener, der Mentor, trifft sich mit einem Kind, das von den Lehrkräften ausgesucht wurde und die Erlaubnis der Eltern hat, in der Schule, einmal wöchentlich, über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten. Zu Beginn versucht der Mentor im Gespräch mit dem Kind herauszufinden, wo seine Interessen liegen, welche Schulprobleme es hat und auf welchem Entwicklungsstand es sich befindet. Danach wählt er die Literatur aus, liest dem Kind daraus vor, lässt das Kind selber lesen, korrigiert die Aussprache, unterhält sich mit ihm über das Gelesene, lässt es eine Inhaltsangabe schreiben, bespricht mit ihm die Rechtschreib-, Grammatik- und Stilfehler.
Meistens sind es Migranten- und deutsche Unterschichtkinder, die Schulprobleme haben. Und die Ursache fast aller Schulprobleme ist das Sprachproblem. Hier, an einer zentral wichtigen, geradezu schicksalsentscheidenden Stelle, setzen Stender und seine Mentoren den Hebel an. Und es ist schwer verständlich, warum die Kultusminister nicht von sich aus in allen Schulen diesen Hebeleinsatz erzwingen, denn genau dieser Hebel macht das Kind stark fürs Leben, weil aus Sprachstärke Ichstärke erwächst.
»Die Pistole ist das Schreibwerkzeug des Analphabeten«, sagt der Sprachforscher Barry Sanders. Kriminologen, Pädagogen und Psychologen berichten übereinstimmend: Sprachlosigkeit ist eine Schwester der Gewalt. Wer nicht gelernt hat, Konflikte verbal auszutragen, löst sie mit der Faust. »Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt«, schrieb der Philosoph Ludwig Wittgenstein.
Sprache ist der Schlüssel zum Schloss in jenem Tor, das uns die Welt öffnet. Die Worte und Gedanken, die unseren Kopf füllen, die Fähigkeit der Unterscheidung, unser Begriffsvermögen und unsere Kunst, vom Wort Gebrauch zu machen – das alles entscheidet wesentlich über unser Schicksal. Deshalb ist dieses einfache Mittel – Vorlesen, Lesen, über das Gelesene miteinander sprechen – so entscheidend für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.
Otto Stender war 68 Jahre alt, als er und seine Frau die genial einfache Idee umzusetzen begannen, im Jahr 2003 den Verein »Mentor – Die Leselernhelfer Hannover e.V.« gründeten und Mentoren im Freundeskreis anwarben. Bald schon hatten sie hundert Freiwillige, die in rund 200 Schulen in Hannover unterwegs waren. Das Erfolgsmodell sprach sich herum, sogar bis ins englische Königshaus. Daher wurden Stender und seine erste Schülerin im April 2009 von Prinz Charles nach Berlin eingeladen, um den Royals die Idee des Mentor-Projektes persönlich vorzustellen.
Wie das Biografiegespräch aus Gödelitz wird auch das Lesegespräch aus Hannover inzwischen bundesweit eingesetzt. Heute betreuen rund 9000 Mentoren 11 700 Kinder und Jugendliche an 1193 Schulen in 127 großen und kleinen Städten. Wer sich darüber informieren, vielleicht mitmachen oder das Projekt sonstwie unterstützen will, gehe zur Website des Vereins: www.mentor-leselernhelfer.de.
Sowohl die Lese-Idee aus Hannover als auch die Gesprächsidee aus Gödelitz haben sich jeweils Einzelne ausgedacht, normale Bürger, die plötzlich selbst aktiv wurden, um ein Problem zu lösen. Natürlich gibt es in Deutschland Tausende solcher Initiativen, und es sind nicht immer nur Private und Einzelne, die etwas unternehmen, auch Gruppen, Vereine, Organisationen, Kirchengemeinden engagieren sich. In Mainz habe ich beispielsweise eine Gruppe katholischer Frauen kennengelernt, die ein Frauenhaus gegründet haben und betreiben, aber auch ein vorbildliches Integrationsprojekt managen. Sie unterrichten Türkinnen in Deutsch, und damit die auch Zeit zum Lernen haben und deren Kinder versorgt sind, bringen sie ihre Kinder mit, wo sie von den Mainzer Katholikinnen bekocht werden. Auch auf solche Weise fallen die unsichtbaren Mauern zwischen Deutschen und Migranten. Es gibt viele Wege, die Europa aufs Siegertreppchen führen statt unters Fleischerbeil. Aber allen ist gemeinsam: Unten, im Dorf, in der Stadt, in der Region, müssen die Wege angelegt, gebahnt, beschritten und miteinander vernetzt werden.
So, nur so, erarbeiten sich Deutsche und Migranten eine gemeinsame europäische Zukunft. Diese Zukunft entsteht nicht aus Verhandlungen von Politikern mit Islamfunktionären, bei denen sich jeder davor fürchtet, zu viel zu geben und zu wenig dafür zu bekommen. Diese Zukunft entsteht auch nicht aus dem Streit der Religionen mit den Säkularen oder einem Kampf der Interessen, sondern nur durch gegenseitiges Kennenlernen, aus von unten wachsenden persönlichen Beziehungen. Das Ziel solch einer gemeinsamen Zukunft kann selbstverständlich nicht darin bestehen, dass sich die Gruppe der Migranten einer deutschen Leitkultur unterwirft, wie sie einmal von Theo Sommer und Friedrich Merz dekretiert worden ist, dass Migranten sich verdeutschen, aber natürlich auch nicht, dass Deutsche sich vertürken oder gar ihr Rechtssystem an die Scharia anpassen. Nein, beide sind gefordert, sich so zu verändern, dass die gemeinsame Zukunft Teil einer internationalen, freien und demokratischen Zivilgesellschaft der Gleichen wird. Unsere Verfassung lässt Spielraum für unterschiedlichste Lebensweisen und Weltanschauungen.
Man stelle sich vor, Stenders Idee hätte sich nicht erst vor einem Jahrzehnt, sondern schon vor zwei oder drei Jahrzehnten durchgesetzt, und Schmidt-Gödelitz’ Biografiegespräche gäbe es, seit der Portugiese Armando Rodrigues mit einem Moped beschenkt wurde. Von der Berliner Rütli-Schule hätten wir vermutlich nie etwas gehört. Ausländerwohnungen und Asylantenheime hätten vielleicht nie gebrannt. Die Mutation der Hauptschule zur Restschule, auf der die »hoffnungslosen Fälle« enden, wäre ausgeblieben. Jugendliche ohne Schulschluss gäbe es kaum mehr. Das Messer und das Fleischerbeil, mit dem Michael Adebolajo und Michael Adebowale den Soldaten Lee Rigby auf einer Londoner Straße hingerichtet haben, wären vielleicht nie zum Einsatz gekommen, wenn die beiden Kinder nigerianischer Einwanderer jemanden gehabt hätten, der ihnen vorlas, sie zum Lesen brachte, mit ihnen sprach oder sich einfach nur für das Leben dieser nigerianischen Familie interessierte.
Als Reaktion auf die Terroranschläge in Paris hat Regisseur Luc Besson auf seiner Facebook-Seite einen offenen Brief »an einen muslimischen Bruder« geschrieben. Darin heißt es:
»Mein Bruder, wenn Du wüsstest, wie schlecht ich mich heute fühle für Dich, Dich und Deine schöne Religion, die so beschmutzt, gedemütigt, beschuldigt wurde … Fangen wir am Anfang an. Wie sieht die Gesellschaft aus, die wir Dir anbieten?
Sie basiert auf Geld, Profit, Trennung, Rassismus. In einigen Banlieues erreicht die Arbeitslosigkeit der Unter-25-Jährigen fünfzig Prozent. Man hält dich aufgrund Deiner Hautfarbe oder deines Vornamens auf Abstand. Man kontrolliert Dich zehnmal am Tag, man pfercht Dich in überfüllte Hochhäuser, und niemand setzt sich für Dich ein. Wer kann in solchen Umständen leben und sich entfalten? Ein Tier oder ein Kind, das man monatelang ohne Zuneigung lässt, tötet am Ende doch jeden X-beliebigen.
Wie soll sich diese Gesellschaft, die man Dir anbietet, ändern? Indem Du arbeitest, studierst, indem Du lieber zum Stift als zur Kalaschnikow greifst. Das ist nämlich das Gute an der Demokratie, dass sie Dir elegante Werkzeuge anbietet, um Dich zu verteidigen. Nimm Dein Schicksal in die Hand, ergreife die Macht. Es kostet dich 250 Euro, eine Kalaschnikow zu kaufen, ein Kugelschreiber aber nicht mal drei Euro, und dabei hat deine Antwort so tausendmal mehr Einfluss …
Du solltest wissen, dass die beiden blutrünstigen Brüder heute nicht Deine waren, und das wissen wir alle. Sie waren höchstens zwei geistig Schwache, aufgegeben von der Gesellschaft, dann missbraucht von einem Prediger, der ihnen die Unsterblichkeit verkaufte … Die radikalen Prediger, die ihr Geschäft machen und euer Unglück ausnutzen, haben nichts Gutes im Sinn. Sie bedienen sich Deiner Religion für ihre eigenen Vorteile. Es ist ihr Geschäft, ihre kleines Unternehmen.
Morgen, mein Bruder, werden wir stärker sein, verbundener, solidarischer. Ich verspreche es Dir. Aber heute, mein Bruder, weine ich mit Dir.«

Kommentare

Eine Antwort zu „Frieden beginnt im Kiez, im Stadtteil, im Dorf“

  1. Avatar von helmut dreßler
    helmut dreßler

    es gibt nichts zu ergänzen, der artikel ist einfach gut und richtig, er gibt mir ein gutes gefühl zu ostern.

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