Nachtwächter im Netz

Die „Kalifornische Ideologie”: Der Staat ist bloß ein Störfaktor

Wenn ein deutscher Staatsanwalt durchs Internet pirscht und Pornohändler, Kinderschänder und Neonazis entdeckt, dann kassiert er den Computer, von dem aus diese Übeltäter agieren. Anfangs dachten die Staatsanwälte, damit wäre der Fall erledigt.

Inzwischen wissen sie, daß das Konfiszieren von Computern dem Steinewälzen des Sisyphus gleicht; denn das konfiszierte Böse schwappt kurze Zeit später über einen anderen, meist ausländischen Computer wieder ins Land. Der Besitzer des Computers hat vorsorglich sein verbotenes Zeug auf den Computer eines im Ausland lebenden Bundesgenossen kopiert. Wenn auch dort ein Staatsanwalt aufkreuzt, sind die Daten schon wieder auf den nächsten Computer in einem dritten Land kopiert, und so fort.

Einen Mann wie Bayerns Ministerpräsidenten Edmund Stoiber bringt das um die Fassung. Er ist ja sehr fürs Internet und fürs Moderne überhaupt. Aber er ist auch sehr fürs Heimelige, für Goaßlschnalzer und für Schuhplattler. Im Internet surfen unterm Herrgottswinkel – das ist Stoibers Ideal. Doch das verpfuschen die Web-Ganoven, und daß sich die Netzgemeinde mit diesen Netzbeschmutzern solidarisiert, das kann Stoiber überhaupt nicht verstehen.

Es ist ja auch schwer zu verstehen, wenn man immer nur – wie Stoiber, aber auch wie manche liberale Politiker, Grüne und Feministinnen – die Kinderschänder und Pornohändler im Blick hat. Da kann man zweierlei nicht sehen. Erstens: Hinter der scheinbaren oder tatsächlichen Solidarisierung der Netzgemeinde mit den Gesetzesbrechern steckt keine neue Dämonie, sondern eine gar nicht so neue radikaldemokratische Haltung, die schon Voltaire bewiesen hat, als er sich mit seinem politischen Gegner stritt und sagte: „Ihre Meinung ist das genaue Gegenteil der meinigen, aber ich werde mein Leben daran setzen, daß Sie es sagen dürfen. ” Wir können zwar vermuten, daß selbst Voltaire bei Kinderschändern Grenzen der Meinungsfreiheit postuliert und die Netzgemeinde gerügt hätte. Aber der geht es nicht um den Schutz der Kinderschänder, sondern um den Schutz des Netzes vor dem Staat. Nicht Moralfeindlichkeit, sondern Staatsfeindlichkeit ist das Motiv.

Wollt ihr die totale Technologie?

Das Zweite und Entscheidende, was Stoiber und Co. übersehen: Die geradezu manische Staatsfeindlichkeit der sogenannten „Netizens” ist nur Teil eines Gesamtpakets, und wer an diesem Teil Anstoß nimmt, müßte eigentlich am Gesamtpaket Anstoß nehmen. Dazu müßte man es aber erst mal aufschnüren: radikale Liberalität, schrankenloser Individualismus, totaler Markt, konsequenter Einsatz neuer Technologien – und das Internet als Transmissionsriemen. Es ist eine ganze Ideologie.

Propagandisten dieser Ideologie sind keine unbekannten Sektierer, sondern Politiker wie Al Gore und Newt Gingrich, Autoren der Cyberkultur aus dem Umfeld der Zeitschrift Wired wie Esther Dyson und Kevin Kelly, weltweit bekannte Internet-Aktivisten wie John Perry Barlow, Management-Gurus wie Tom Peters und viele einflußreiche Manager und Journalisten aus der amerikanischen Hightech-Branche.

Die neue Ideologie ist eine seltsame Verschmelzung emanzipatorischer und anarchistischer Ideen mit stramm rechten, neoliberalen Theorien. Hier verbünden sich neue Yuppies mit alten Hippies. Das Epizentrum der sich ausbreitenden Heilserwartung liegt in Kalifornien, weshalb der neue Glaube von den beiden englischen Soziologen Richard Barbrook und Andy Cameron die „Kalifornische Ideologie” genannt wird.

Der zentrale Glaubenssatz dieser Ideologie lautet: Für die Hälfte aller Probleme der Menschheit gibt es eine technische Lösung. Die andere Hälfte löst der Markt. Und beide zusammen werden uns in eine Goldene Zukunft mit immerwährendem Aufschwung führen, in eine Zukunft, in der Krieg, Armut, Krankheit, Alter und sogar der Tod überwunden wird. Das Einzige, was auf dem Weg dahin noch stört, ist der Staat.

Utopie mit Schönheitsfehlern

Nicht mehr Politiker, Behörden und Gerichte sollen das Zusammenleben regeln und organisieren, sondern die vielen einzelnen über die Mechanismen des Marktes und mit Hilfe des Internets. Gesetzgebung, Kontrolle, sogar moralische Prinzipien soll man dem Markt überlassen, wird man ihm über kurz oder lang sowieso überlassen müssen; denn in einer globalen Wirtschaft spielen nationale Regelungen keine Rolle mehr. Gibt es keine Staaten mehr, kann es kein Militär mehr geben, also auch keinen Krieg. Allenfalls Polizei ist noch nötig: für den Schutz des einzelnen; aber auch dafür braucht man keinen Staat. Das können private Sicherheitsdienste genauso erledigen.

Krankheiten wird die Gentechnik heilen oder gar nicht erst aufkommen lassen. Später wird die Nanotechnik es ermöglichen, winzig kleine Roboterheere in den Körper zu schleusen. Dort reparieren die molekülkleinen Nano-Roboter beschädigte Zellen. Alter und Tod werden dann kein unausweichliches Schicksal mehr sein. Und wenn es mit Hilfe der Gentechnik gelingen sollte, die eigene Intelligenz oder sein Aussehen zu verbessern, so hat kein Papst und keine Ethik-Kommission der Welt das Recht, dem einzelnen dieses zu verbieten. So in etwa lautet der neue Glaube aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Natürlich hat diese kapitalistische Utopie ein paar Schönheitsfehler – zu allererst jenen, den Leszek Kolakowski schon bei allen Utopien des Goldenen Zeitalters entdeckt hatte: „Jeder Versuch, das Paradies auf Erden zu verwirklichen, endet regelmäßig in der Hölle. ”

Als nächstes muß man sehen, daß die verheißenen Segnungen nur den Weißen zugute kommen werden, und von denen auch nur dem englisch sprechenden, männlichen und gebildetem Teil mit hohem Einkommen. Soeben berichtete die Zeitschrift Science, was man schon ahnte: Weniger als ein Drittel der amerikanischen Schwarzen hat zu Hause einen Computer stehen, im Gegensatz zu 73 Prozent der Weißen. Mindestens 12 Millionen Amerikaner haben noch nie vom Internet gehört.

Der dritte häßliche Fehler steckt in der Tatsache, daß gerade das Hightech-Business aufs engste mit dem amerikanischen Staat verflochten ist. Es gibt wohl keine Branche auf der Welt, die mit mehr staatlichen Geldern aufgepäppelt wurde als die Computer- und Telekommunikationsindustrie. Ohne die Milliardenströme aus dem Pentagon, der NASA und anderen staatlichen Stellen wäre diese Industrie nicht entstanden; und das Internet ist aus einem Militärprojekt hervorgegangen. Das Pentagon wollte ein dezentrales Computernetz, das auch dann weiter funktionsfähig bleiben sollte, wenn Teile dieses Netzes zerstört würden. Wenn Al Gore jetzt anstrebt, sämtliche Schulen Amerikas miteinander zu vernetzen, dann ist dies wieder ein gewaltiges staatliches Förderprogramm für die informationstechnische Industrie.

Staatsfeindlich sind die Cyber-Libertarians also nur partiell. Geprügelt wird der Staat nur da, wo er die Geschäfte stört; wo er sich anmaßt, Steuern zu erheben, Gentechnikern auf die Finger zu schauen, Umweltschutzgesetze durchzusetzen, Datenschützer zu installieren, industrielle Monopole zu zerschlagen oder verbindliche Spielregeln durchzusetzen.

Ernst nehmen muß man die kalifornische Ideologie trotzdem, denn deren Propheten wähnen sich an der Spitze des Zeitgeistes; sie glauben, wie einst die Kommunisten, die Macht der Geschichte hinter sich zu haben, und vor allem verfügen sie über Einfluß und Geld. Ihre Ideologie strahlt ja auch schon aus bis nach Europa. Arbeitgeberfunktionäre, BDI-Präsidenten und FDP-Politiker sind längst davon angesteckt und kommen sich sehr fortschrittlich vor, wenn sie ebenfalls den Staat in die Nachtwächterrolle drängen, und die Rückkehr zum Manchester-Kapitalismus des letzten Jahrhunderts anstreben.

Will also einer wie Stoiber die Tradition und den Fortschritt verbinden, dann muß er gegen das Gesamtpaket kämpfen statt nur gegen linken und rechten Müll im Netz. Als Aufpasser unter Franz Josef Strauß hat Stoiber in dessen Staatskanzlei zwar vorgeführt, wie man als Staat und Partei einen Rundfunksender so ziemlich unter Kontrolle bringt; aber er irrt, wenn er glaubt, das gleiche könne ihm auch mit dem Internet gelingen. Und er verzettelt seine Kräfte, wenn er’s trotzdem versucht, noch dazu auf einem Nebenkriegsschauplatz.

Fortschrittlicher, moderner und dazu noch effizienter wäre Stoiber, wenn er dafür kämpfte, auch unter den Bedingungen der Globalisierung so altmodische Traditionen wie Rechtsstaatlichkeit, Solidarität und verbindliche Werte zu bewahren; denn der Total-Kapitalismus ist eine rückwärtsgewandte Ideologie, auch wenn sie sich mit den neuesten Technologien schmückt. Außerdem: Auch Schuhplattler, Goaßlschnalzer und Herrgottschnitzer rettet man leichter ins nächste Jahrhundert, wenn man kalifornische Ideologien rechtzeitig zurechtstutzt.

Süddeutsche Zeitung, 28.05.1998


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