Wir Millennials an der Macht

Die Älteren glauben, wir seien zu weich für diese harte Zeit. Meinen sie vielleicht sich selbst?

Von Livia Gerster

Dieser Text ist ein Auszug aus dem gerade erschienenen Buch von Livia Gerster: „Die Neuen. Eine Generation will an die Macht“. C.H. Beck, München, 335 Seiten, 24 Euro. 

Das ,Borchardt‘ ist so Klischee“, sagt Annika Klose und lässt sich auf die dunkelrote Polsterbank fallen. Am weiß und silber gedeckten Tisch lauter aufgekratzte Genossen und Genossinnen. Carlos Kasper bestellt sich gerade schon das zweite Schnitzel mit lauwarmem Kartoffelsalat. Die Vegetarierinnen löffeln ihr Pilzrisotto vom Teller.

Jetzt sind die Jusos also angekommen, in der Französischen Straße Nummer 47. Schon Gerhard Schröder hat hier sein Schnitzel gegessen, Angela Merkel manchen Silvesterabend verbracht. Seit 25 Jahren ist das Borchardt der Ort, an dem Journalistinnen Interna erfahren und Lobbyisten ihre Botschaften platzieren. Ein heiteres Sehen und Gesehenwerden.

In unserem Fall geht es vor allem ums Sehen. Noch fehlt die ganz große Prominenz, aber da hinten haben die jungen Abgeordneten gerade Carsten Schneider gesichtet. Immerhin. Ach, und ist das nicht die Freundin von Christian Lindner?

Nur Zaungäste

Mir geht es so wie den Jusos. Ich kenne hier auch niemanden. Unter dem Tisch google ich verstohlen Namen und Gesichter. Und fühle mich wie eine als Journalistin verkleidete Touristin.

Überhaupt habe ich das Gefühl, dass wir Millennials hier nur Zaungäste sind. Die Türsteher vor dem Borchardt haben uns zwar reingelassen, aber ins Zentrum der Macht lässt man uns deshalb noch lange nicht vor. Wir dürfen einen Blick hinter die Kulissen werfen, mehr nicht. Die Älteren haben immer noch das Sagen.

Aber wie ist das in zehn oder 20 Jahren? Was, wenn die harmlosen jungen Leute um mich herum dann plötzlich regieren? Der Gedanke erschreckt mich ein wenig. Vielleicht sollte ich lieber einen professionellen Sicherheitsabstand wahren.

Liebesbriefe vom Kanzler?

Den Jusos geht es ähnlich, allerdings betrifft ihre Sorge die FDP. Mit dem künftigen Koalitionspartner könnte man ja eigentlich mal anstoßen, aber was sollen dann die Jusos zu Hause denken? Nein, danke. Man bleibt lieber erstmal unter sich. Gibt ja auch genug zu besprechen in diesen ersten Tagen in Berlin.

„Habt ihr schon euer Postfach gefunden?“, fragt einer am Tisch. „Ja, meins ist neben Klingbeil!“, sagt Klose stolz. „Meins ist neben Scholz!“, trumpft Christian Schreider auf, der einzige Ältere in der Runde. Das verleitet die anderen zu Spekulationen. Liegen da Liebesbriefe drin? Bestechungsschreiben? Einer witzelt: „Nee, nur was von der Warburg-Bank!“ Gejohle.

Ich lache mit. Aber darf ich das überhaupt? Geht es hier nicht viel zu lustig zu zwischen den jungen Abgeordneten und der Journalistin?

Ihr Postfach liegt direkt neben dem von Parteichef Klingbeil: Annika Klose, 30 Jahre alt, SPD
Ihr Postfach liegt direkt neben dem von Parteichef Klingbeil: Annika Klose, 30 Jahre alt, SPD Flashpic

Zum Glück erspähe ich gerade jemanden, dem ich meine Fragen stellen kann. Günter Bannas, langjähriger Büroleiter der F.A.Z.-Parlamentsredaktion, beruhigt mich erstmal. „Wir sind dabei, aber wir gehören nicht dazu“, sagt er. Das ist erleichternd. Nur weil man mal miteinander anstößt, macht man noch lange nicht gemeinsame Sache.

Wie die Jungen sich plötzlich die Macht erobern, das hat Bannas jedenfalls alles schon mal erlebt. Als junger Journalist beobachtete er die Neuen von damals, so wie ich die Neuen von heute: durch die Brille unserer jeweiligen Generation. Die Jusos, mit denen Bannas damals am Tisch saß, hießen Schröder, Lafontaine, Wieczorek-Zeul, Scharping und Däubler-Gmelin. Sie waren frühe Babyboomer und in den 70er Jahren zu Tausenden in die SPD eingetreten. Sehr zum Missfallen der Älteren, denn plötzlich waren die in allen Ortsvereinen die Minderheit.

Als Bannas als Hauptstadtkorrespondent für die F.A.Z. in Bonn anfing, begannen diese Jungen langsam, den Älteren die politische Arena streitig zu machen. Sie waren derart viele und drängten mit einer solchen Macht auf die Bühne, dass die Älteren ihnen nicht viel entgegensetzen konnten. Die Kriegsgeneration war ausgedünnt. Politik war in der jungen Bundesrepublik schließlich eine Sache der Männer gewesen – und von deren Zeitgenossen waren viele im Krieg gefallen. „Die Übriggebliebenen sprachen mit großer Autorität, solange sie allein waren“, erinnert sich Bannas. „Als die Jungen hereindrängten, spürten sie, wie ihre Zeit zu Ende ging.“

Millenials füllen die Lücken der Babyboomer

Als aufstrebender Journalist hatte Bannas nur geringes Interesse, sich mit den alten Helmut Schmidts und Rainer Barzels zu befassen, jenen, die um 1920 geboren waren und selbst noch im Weltkrieg gekämpft hatten. Und Gerhard Schröder ging es mit den Bonner Journalisten ähnlich. „Was soll ich mit Ihren alten Kollegen reden?“, sagte er mal zu ihm. „Die sind doch längst in Rente, wenn ich Kanzler bin.“

Als junger Mann erlebte Bannas, wie die Babyboomer die Kriegsgeneration ablösten. Nun beobachtet er, inzwischen selbst im Ruhestand, wie die Millennials den Platz einnehmen, den die ausscheidenden 60- und 70-Jährigen hinterlassen. Die Babyboomer waren aufgrund ihrer schieren Anzahl dominant. Die Millennials sind weniger, aber weil sie ihre Lücke füllen, kommen sie nun ähnlich wuchtig daher. So viele gehen bald in Rente, dass man nur auf die Neuen zu warten scheint. Das macht sie selbstbewusst.

* * *

Ein Jahr später ist die fröhliche Abenteuerstimmung der jungen Abgeordneten verflogen. Dazwischen ist viel passiert. Putin hat die Ukraine überfallen. Deutschland rüstet auf. Einkaufen ist teuer geworden. Das Gas wird knapp.

„Man kommt in den Bundestag und denkt, man hätte Macht“, sagt Max Mordhorst, ein junger Liberaler. „Und dann fühlt man sich erstmal völlig ohnmächtig.“ Der russische Angriffskrieg ist ein Schock für die neuen Abgeordneten. Und Max Mordhorst reagiert an jenem 24. Februar, wie man in unserer Generation eben reagiert: Man twittert seine Ohnmacht in die Welt hinaus. „Habe mich selten so machtlos gefühlt“, schreibt er um 9:42 Uhr. Hashtag Ukraine.

#StandWithUkraine wird an diesem Tag zum omnipräsenten Schlachtruf. Diese Schlacht ist allerdings völlig gefahrlos, eine reine Twitter-Schlacht, bei der alle auf der gleichen Seite kämpfen. Profilbilder werden in Gelb und Blau getaucht. Es wimmelt von Emoticons der ukrainischen Fahne. Weil es im sicheren Deutschland für niemanden von uns etwas zu verlieren gibt, fechten wir auf unseren Smartphones verzweifelte Ersatzkämpfe aus.

Aus der Social-Media-Logik kann niemand ausbrechen

Gleichzeitig überkommt Mordhorst ein Unbehagen angesichts der plötzlich überall bekundeten Solidarität. „Tut mir leid, aber ich finde dieses #StandWith­Ukraine zynisch“, schreibt er. Er wolle sich erst einmal öffentlich zurückhalten, solange er keine konkrete Hilfe leisten könne.

Kurze Zeit später folgt der nächste Tweet.

Es ist die Tragik unserer Generation, dass wir aus der Social-Media-Logik einfach nicht ausbrechen können, egal ob wir uns Pausen verordnen und sie mit großem Trara auf allen Kanälen ankündigen oder das Konto löschen und es dann doch wieder aktivieren. Jeder Anspannung muss mit sofortiger Online-Aktivität begegnet werden.

Ist mit den Millienials überhaupt Staat zu machen?

Und dieser 24. Februar ist für uns die Mega-Anspannung. Auf Instagram tanzt die Influencerin Charlotte Weise (177 Tausend Follower) am Kriegstag ihre Verzweiflung mit kreisenden Hüften in die Kamera hinein. Ihre Botschaft: „Wohin mit all den Sorgen, Ängsten und der Trauer. . . lass die Energie irgendwie raus!“ Auf Twitter empfiehlt eine Podcasterin für alle, „die gerade psychisch strugglen“, Achtsamkeitsübungen.

Digitale Selbsthilfegruppen gegen den Stress in der Timeline.

* * *

Die Militärexpertin Ulrike Franke kritisiert schon länger: Mit den Millennials sei kein Staat zu machen, wenn es hart auf hart kommt. Von Machtpolitik verstünden sie nichts, alles Militärische sei für sie Teufelszeug. Franke, selbst Jahrgang 1987, ist der Meinung, dass uns unsere friedliche Kindheit für die Gefahren in dieser Welt blind gemacht hat.

Ich fühle mich ertappt. Wenn von der EU als Friedensversprechen die Rede war, fand ich das immer zum Gähnen. Nationalstaaten würden eh irgendwann abgeschafft, dachte ich. Die schienen mir höchstens noch für Trinkspiele zu taugen.

Zum Beispiel in meinem Erasmus-Jahr in Spanien, beim Eurovision Song Contest. Wenn Frankreich einen Punkt bekam, musste die Französin einen Schnaps trinken, wenn Großbritannien einen bekam, der Brite, und weil im Jahr 2010 Lena Meyer-Landrut gewann, war ich am Ende ziemlich betrunken.

Ukrainer fehlten im Erasmus

„L’Auberge Espagnole“ war das Vorbild, der Film, den wir im Französisch-Unterricht sahen. Und so ähnlich lebten wir das nach in unseren europäischen Erasmus-WGs, feierten, verliebten uns – und manche der Paare, die sich damals über Sprachgrenzen hinweg bildeten, sind heute Eltern von gemeinsamen Kindern.

Uns fiel damals allerdings nicht auf, wer in der Erasmus-WG fehlte. Ukrainerinnen und Ukrainer wie Marusia und Yaroslav zum Beispiel, mit denen ich während der Belagerung von Kiew Kontakt hielt. Sie erzählten mir aus ihrem Bunker, wie sehr sie sich nach dieser Europäischen Union sehnten. Sie hätten auch gern Erasmus gemacht. Sie hätten den Frieden in Europa auch gern für selbstverständlich gehalten. Stattdessen bauten sie nun ganz selbstverständlich Molotow-Cocktails.

Ja, wir wurden von der Wirklichkeit eingeholt. Aber ist das wirklich ein spezifisches Problem der Millennials? Sind unsere Eltern nicht genauso Nachkriegskinder wie wir, verwöhnt von Frieden, Sicherheit und Wohlstand? Haben uns nicht die 60- und 70-Jährigen überhaupt erst von Russland abhängig gemacht, in blindem Vertrauen darauf, dass es schon gut gehen würde?

Alte Herren im Chor mit Putin

Merkwürdigerweise beschuldigt man nun aber vor allem uns, naiv gewesen zu sein. In einem Leitartikel heißt es: „Die Freiheit wird eben nicht am Tamponbehälter in der Männertoilette verteidigt, sondern bei unseren Freunden in der Ukraine.“ Ein CDU-Politiker aus Baden-Württemberg fordert „mehr Geopolitik, weniger Gendersternchen“. Und ein Republikaner in den USA, Jahrgang 1961, schimpft: „Ihr linken Millennials, die ihr keinen einzigen Tag unter nuklearer Bedrohung gelebt habt, könnt jetzt mal über euren Wokeness-Quatsch sinnieren!“

Merken die Herren gar nicht, wie sie da im Chor mit Putin und dessen Ober-Popen Kirill singen, der Russland in einem heiligen Krieg gegen „Gayeurope“ sieht? Wollen die Ukrainer nicht lieber so leben wie wir und eben nicht wie in Russland, wo Homosexuelle auf offener Straße verprügelt werden? Und braucht es nicht deshalb militärische Stärke, um diese Freiheiten auch verteidigen zu können?

Auch Habermas stört sich an der identitätsbewegten Jugend

Doch auch aus der entgegengesetzten Richtung hagelt es Kritik. In verschiedenen Briefen melden sich die Altlinken besorgt zu Wort: Alice Schwarzer, Martin Walser, Alexander Kluge, Harald Welzer, Antje Vollmer, Wolfgang Merkel. Altersdurchschnitt: ungefähr 65 Jahre. Am wirkmächtigsten: der große, alte Habermas.

In einem langen Beitrag für die Süddeutsche Zeitung beschreibt der Philosoph einen Generationenkonflikt, der unter ganz anderen Vorzeichen steht als jener, den die konservativen Woke-Kritiker beschwören. Und doch ist der Vorwurf im Kern ähnlich. Denn auch Habermas stört sich an der identitätsbewegten Jugend – nur ist sie ihm nicht zu weich, sondern vielmehr zu militaristisch. Besonders schockiert Habermas die „Umkehr unserer ehemaligen Pazifisten“ bei den Grünen. Es klingt so, als sei die Jugend in ihrer Anteilnahme für die Ukraine nicht richtig ernst zu nehmen.

* * *

Ricarda Lang, Jahrgang 1994, ist keine Pazifistin. So wie kaum jemand in unserer Generation. Die Anti-Atom-Bewegung kennen wir nur aus Fernsehdokus: gigantische Raketen-Attrappen, kratzige Wollpullover, wallendes Haar. Nun ist die 28-Jährige allerdings die Vorsitzende einer Partei, die in der Friedensbewegung ihren Ursprung hat. Ein Erbe, das sie erst pflichtgemäß verteidigt – und dann an der brutalen Wirklichkeit zerschellen sieht.

Noch ein halbes Jahr zuvor haben die Grünen ihrem damaligen Vorsitzenden Robert Habeck vehement ausgeredet, für Waffenlieferungen an die Ukraine einzutreten. Panisch riefen sie ihn zurück, ließen ihn bedröppelt zurückrudern. Auch Lang stimmte in den Chor ein, als Parteilinke und fromme Wächterin über grüne Grundsätze.

Bereut sie das im Nachhinein? Das frage ich sie im März bei einer Parteiveranstaltung in Hameln, nur wenige Wochen nach der Zäsur. „Darüber habe ich auch schon oft nachgedacht“, bekennt sie. Wir stehen nach ihrer Rede draußen in der Frühlingssonne, das Wetter in geradezu gruseligem Kontrast zur Nachrichtenlage. Truppen vor Kiew, Bomben in Mariupol, Raketen in Lwiw. Ricarda Lang stellt jenes Gedankenspiel in der konjunktivischen Vergangenheit an, das so viele in diesen Tagen anstellen: Was wäre passiert, wenn man damals schon geliefert hätte, und was wäre womöglich nicht passiert? „Ich weiß es nicht“, sagt Lang. „Und trotzdem fragt man sich: hätte man nicht …“

Als naiv gilt, wer etwas anders machen will

Lang reagiert schnell. Zur Solidarität mit den Ukrainern gehöre, „dass wir sie mit dem Material ausstatten, das sie brauchen“, sagt sie drei Tage nach Kriegsbeginn. „Also auch mit Waffen.“ Fortan zieht sie durch die Lande, um den verbliebenen Älteren an der Basis den Kursschwenk zu erklären.

Den Vorwurf der Naivität kennt Ricarda Lang. Schon oft hat sie die Sätze gehört: Das hier ist Realpolitik, Mädel, kein Wünsch-Dir-Was. „Es ist spannend“, sagt Ricarda Lang, „dass diese Begriffe gepachtet sind von denjenigen, die verwalten, was da ist.“ Als naiv gälten oft diejenigen, die etwas anders machen wollten. Dabei sei es doch eher naiv, zu glauben, es könne immer so weitergehen. Zu glauben, wir könnten immer mehr CO2 in die Luft pusten und immer mehr billiges Gas aus Russland kaufen. „Das ist doch am Ende naiv!“

Es sind vor allem die Älteren, die der Krieg in eine intellektuelle Krise stürzt, jene, die ihr Leben lang an die Losung vom Wandel durch Handel geglaubt hatten. Die Jüngeren sind erschüttert, aber denken schnell um. In allen drei Regierungsparteien machen sie Tempo. Die Jugendorganisationen von FDP, SPD und Grünen rufen schon unmittelbar nach dem Überfall nach Waffenlieferungen. SPD-Fraktionschef Mützenich spricht noch weiter von Diplomatie, als die Juso-Abgeordneten Jessica Rosenthal und Adis Ahmetovic den russischen Ausschluss aus dem Zahlungssystem Swift fordern. „Die Naivität muss enden“, verlangen sie. Und meinen die Älteren.


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