Heute vor 500 Jahren in Worms

Wittenberg. Wir schreiben das Jahr 1517. Da sitzt im Beichtstuhl der Stadtkirche ein kleiner, dicker Mönch und nimmt den Wittenbergern die Beichte ab.

Einige Beichtende, deren Zahl im Jahr 1517 rasant steigt, kommen mit amtlichen Bescheinigungen zu ihm und meinen, die Beichte eigentlich gar nicht mehr nötig zu haben, denn der Papst selbst habe ihnen schon längst alle Sünden erlassen. Auf so einem Schein steht beispielsweise: „Wir tun kraft der uns verliehenen Gewalt durch diesen Brief kund und zu wissen, dass der M. Menner von dem von ihm verübten Totschlag freigesprochen ist. Wir befehlen allen und jedem Einzelnen, kirchlichen Amtspersonen und Laien, dass niemand diesen M. Menner irgendwie wegen dieses Totschlages anklage, verurteile oder verdamme. Kostenpunkt: 7 Dukaten.“ Unterschrift: der Papst. 

Ein Ablassbrief. Gekauft von einem Totschläger. Erworben vom Dominikanermönch Johann Tetzel. Tatsächlich unterschrieben vom Papst.

Der Mönch, Martin Luther heißt er, und ist damals noch ein absoluter Nobody, weiß: Der Papst sammelt mit diesen Ablassverkäufen Geld für den Bau des Petersdoms. Die Ablasspraxis der Kirche gibt es schon lange. Nichts dagegen einzuwenden, denkt Luther, der damals noch ein sehr frommer, ziemlich gehorsamer und eifriger Diener seiner Kirche war. 

Aber: Sieben Dukaten für einen Totschlag? Straffreiheit nicht nur im Himmel, sondern schon auf Erden, und das alles ohne einen Hauch von Reue und Buße? Einen Dom zur Ehre Gottes mit Blutgeld erbauen?

Es kommt noch schlimmer. Die Beichtenden sehen keinerlei Anlass zur Reue und zu dem Versprechen, ihre Untaten künftig zu unterlassen, denn davon war bei diesem Deal nie die Rede. Wenn es also dem Herrn Menner künftig einfällt, noch jemanden zu erschlagen, dann spart er eben so lange, bis er wieder sieben Dukaten zusammen hat, und schreitet zur nächsten Tat. 

Nicht nur das eigene Sündenkonto konnte durch Geld entschuldet werden, sondern auch das der verstorbenen Angehörigen. Dadurch verkürzte sich deren Aufenthaltsdauer im Fegefeuer. Auch bei diesem Deal erwies sich der rührige Tetzel als äußerst geschäftstüchtig. 

Dieses ganze Ablasswesen samt Fegefeuer wird Luther erst etliche Jahre später auf den Abfallhaufen für religiöse Irrtümer werfen. Jetzt aber, im Jahr 1517, wo er zum ersten Mal von diesem Tetzel hört, regt ihn vor allem dessen Marktschreierei auf und mehr noch, dass seine Schäflein betrogen werden. Die zahlen Geld für ein Produkt, das gar nicht funktioniert, aber marschieren im Vertrauen darauf, dass ihre Sünden vergeben seien, geradewegs in die Hölle. 

Also: Nicht die Ablasspraxis kritisiert Luther zu jenem Zeitpunkt, sondern nur deren Missbrauch. Er wähnt sich in dieser Kritik in Übereinstimmung mit dem Papst, der diese Praxis, wenn er davon wüsste, gewiss unterbinden würde, denkt Luther. 

Das sagt er auch seinen Schäflein im Beichtstuhl. Aber das wollen die nicht hören. Und so gehen sie beim nächsten Mal lieber ins benachbarte Brandenburg nach Jüterbog oder Magdeburg, wo Tetzel die Ablässe verkauft. Und natürlich erzählen sie ihm, was Luther ihnen gesagt hat. 

Mit diesem kleinen Anfang vor einem halben Jahrtausend in der sächsischen Provinz nahm dann eine Geschichte ihren Lauf, die zur Reformation führte, zur Kirchenspaltung, in den 30jährigen Krieg, in die Aufklärung und in die Neuzeit. 

Luther hatte im Grunde nur vier Jahre gebraucht, um diese Lawine loszutreten. Mit bloßen Worten. Und: ohne dass er das eigentlich wollte.

Niemand hatte das vorhergesehen, auch Luther selbst nicht, als er Tetzel das Geschäft versaute. Daher ist es interessant zu verfolgen, wie es weiterging mit jener Ablass-Sache, von der man in Rom noch nichts wusste, und es dann, als man dort davon hörte, als Mönchsgezänk in irgendeiner deutschen Provinz abtat. 

Und noch interessanter ist es, zu verfolgen, wie alles so rasend schnell gehen konnte. 

Von diesem Tetzel, der da wütete und tobte und Luther in Rom anschwärzte, wüssten wir heute nichts mehr, wenn nicht Luther vier Jahre später sein legendäres „Hier stehe ich“ gesprochen hätte. Das Wort ist wirklich eine Legende. Wirklich gesagt hatte er etwas ganz anderes, etwas scheinbar viel unspektakuläreres, tatsächlich aber viel Schwerwiegenderes, das dann die römische Supermacht erbeben ließ. Dazu später mehr. 

Schauen wir erst, wie die Dinge sich entwickelten in den kurzen vier weltverändernden Jahren: Der tobende und wütende Tetzel handelt als Bevollmächtigter des Papstes, im Auftrag und mit der Erlaubnis des mächtigen Fürstbischofs Albrecht von Brandenburg und denkt daher: Was bildet dieser Luther sich ein? Was glaubt der, wer er sei? Wie kann ein unbedeutender Prediger aus Wittenberg es wagen, ihm, dem vom Papst Bevollmächtigten, ins Handwerk zu pfuschen? Was geht diesen Kerl in Wittenberg überhaupt an, was er in Magdeburg tut?  

Rasch holt der Dominikaner die Keule hervor, mit der bisher schon jeder Unruhestifter wieder zur Vernunft gebracht werden konnte: Wer gegen ein Schreiben aufbegehrt, das die Unterschrift des Papstes trägt, begehrt gegen den Papst auf, ist folglich ein Ketzer, und also des Todes. „Der Ketzer soll mir in drei Wochen ins Feuer geworfen werden“, sagt Tetzel im November 1517. Die übliche Problemlösung damals. 

Dabei ist Tetzel nun aber an den Falschen geraten. Als dem zugetragen wurde, dass der Dominikanermönch nicht daran denke, seinen Ablasshandel einzustellen, ist es Luther, der wütet und tobt. Und später berichtet er: „Da ging ich herzu wie ein geblendet Pferd, denn der Tetzel machte es gar zu grob mit seinem Ablass.“ 

Und nachdem er herzu gegangen war wie ein geblendet Pferd, kündigte er an, „nun will ich der Paucke ein Loch machen“. Das tut er, und zwar so wirkungsvoll, dass er selber davon überrascht wurde. 

Er setzt sich hin und schreibt auf, was aus theologischer Sicht gegen die Tetzelsche Art des Ablasshandels spricht. Selbstbewusst bemerkt er, der Papst habe es nötiger, dass man für ihn bete, als dass man ihm Geld schicke. Und er fragt: Wenn er schon die Macht hat, Sünden zu vergeben, warum erlässt er sie dann nicht den Menschen aus Liebe und Barmherzigkeit? Wieso muss er die Leute dafür abkassieren? Und überhaupt: Warum erbaut der Papst, der reicher ist als die reichsten Leute, nicht die Peterskirche mit seinem eigenen Geld?

Solche Worte hat die Welt noch nicht gehört. Aber die Ohren dafür waren gespitzt.

Am Ende hat Luther einen Text aus 95 Thesen, die Geschichte machten. Ohne dass Luther das beabsichtigte. Er war ja noch immer der fromme Mönch, dem es nur um das Wohl seiner Kirche und seiner ihm anvertrauten Schäflein ging. Er wollte einfach nur, dass dieser Quatsch mit dem Ablass aufhört.

Deshalb schickte er seine Thesen an verschiedene Hierarchen, Fürsten und Professorenkollegen, mit denen er an der Uni diskutieren wollte. Das war der eigentliche Zweck des Aushangs der Thesen an verschiedenen Kirchentüren in Wittenberg. Luther wollte keinen Aufruhr, sondern eine akademische Diskussion.

Die fiel aus. Kein Interesse. 

Seine 95 Thesen wären daher möglicherweise versandet und vergessen worden oder allenfalls eine Angelegenheit für Theologen, Juristen und Verwaltungsbeamte geblieben, wenn nun nicht etwas damals noch Brandneues über Luthers Sache hereingebrochen wäre: der Buchdruck, vom Mainzer Johannes Gutenberg um das Jahr 1450 erfunden. In dem halben Jahrhundert, das seitdem verging, sind überall im Land Druckereien entstanden. Daher passiert nun etwas, womit Luther nicht rechnen konnte: Auf nicht mehr nachvollziehbaren Wegen gelangten seine Thesen in die Hände auswärtiger Drucker, die ohne Luther zu fragen, dessen Thesen einfach druckten.

Die Geschichte „Mönch gegen Rom“ kam ihnen gerade recht, da ihr Geschäft schon lange kriselte. Die 95 Thesen aber lasen sich nun wie etwas, worauf die Welt schon lang gewartet hatte. Der Geldhunger Roms und die Art, wie Papst und Kurie Geld eintrieben, war unter den Gebildeten im Deutschen Reich schon seit Jahrzehnten ein häufig diskutiertes Thema und Anlass für Kritik, Spott und Satire.  

Schnell wurden die Thesen ins Deutsche übersetzt und nachgedruckt. Das weitere erledigten die damals sich formierenden Intellektuellenzirkel, die begierig alles Gedruckte aufnahmen, weiterverbreiteten und öffentlich zur Diskussion stellten.

Verblüfft notiert Martin Luther später: „Ehe 14 Tage vergangen waren, hatten diese Thesen das ganze Deutschland und in vier Wochen fast die ganze Christenheit durchlaufen, als wären die Engel selber Botenläufer (…) und trügen sie vor aller Menschen Augen. Es glaubt kein Mensch, was für ein Gerede davon entstand.“

Zu dieser Überraschung – und das ist jetzt für die Katholiken wichtig, die in Luther noch immer den Kirchenspalter sehen – gesellte sich eine zweite. Sie bestand darin, dass Luther von Albrecht von Brandenburg und all den anderen, die er angeschrieben hatte, nichts hörte. 

Luther war durchdrungen von der Überzeugung, mit seinem Kampf gegen Ablassmissbrauch im Interesse der Kirche, des Papstes und der Gläubigen zu handeln. Eigentlich hatte er erwartet, dafür von allen gelobt zu werden. Aber es kam keine Reaktion.

Was Luther damals noch nicht wusste: Der bei den Fuggern hoch verschuldete Albrecht von Brandenburg hat am Verkauf der Ablässe bestens verdient. Auch die Fugger verdienten bestens. Und natürlich der Papst. Mit der Verwandlung der Gnade Gottes in eine Vollkaskoversicherung, die durch beliebig vermehrbare Policen gut ans Volk zu verkaufen war, erzielten sie die Einnahmen, die sie brauchten, um ihren aufwändigen Lebensstil zu finanzieren. 

Der tumbe Tor Martin Luther in seiner naiven Ahnungslosigkeit war dabei, ihnen das Geschäft kaputt zu machen. Und so haben sie, statt ihn zu loben, in Rom und in den Fürstbischofsresidenzen die Messer gewetzt.

Dem unschuldig-naiven Luther werden diese Zusammenhänge erst allmählich bewusst im Verlauf jener Jahre, in denen er immer tiefer in Konflikt gerät mit der kirchlichen Obrigkeit und dabei das kirchliche Führungspersonal näher kennenlernt. Dessen Handeln, so lernt Luther nun, ist von allem Möglichen bestimmt, nur nicht von der Sorge um die Kirche und die Verantwortung für die Gläubigen. Die Kirchenführer, denen Luther in fast kindlicher Weise vertraut hatte, entpuppen sich als die größte Enttäuschung seines Lebens, werden ihm spinnefeind, trachten ihm nach dem Leben, und ersinnen dafür theologische und kirchenrechtliche Gründe, die nur verbergen sollen, dass sie in Wahrheit nur ihre ökonomischen Interessen, Pfründe und Privilegien verteidigen.

So beginnt nun die Geschichte einer enttäuschten Liebe. Aus enttäuschter Liebe wird Hass. Luthers eigenes Naturell hat dann erheblich dazu beigetragen, dass er in immer tiefere Konflikte mit den leitenden Herren der Kirche und des Staates gestürzt wird. Jede Teufelei, die sich seine Gegner ausdachten, beantwortete er mit einer eigenen Teufelei. Immer häufiger ging er „herzu wie ein geblendet Pferd“, das dann ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zu stoppen war.

Was den Herren in Rom zunächst als „kleines Mönchsgezänk“ zwischen dem Augustiner Luther und dem Dominikaner Tetzel erschienen war, das durch eine kleine Ketzerverbrennung zu lösen sei, entglitt den mächtigen Herren nun. Weil die übliche klerikale Methode, ein Problem durch Verbrennung zu lösen, plötzlich nicht mehr funktioniert. Ein Jahrhundert zuvor hatte das mit der Verbrennung von Jan Hus in Konstanz noch reibungslos geklappt. Warum jetzt nicht mehr? Was war anders?

Einiges war anders. Erstens kamen da ein paar Zufälle zusammen. Die Türken griffen das Reich an, und da hatte der Papst andere Sorgen als den Luther. Dann starb der Kaiser, und es musste ein neuer, dem Papst genehmer Nachfolger gefunden werden. Dafür brauchte der Papst Luthers Kurfürsten Friedrich den Weisen, der von Anbeginn seine schützende Hand über ihn hält und durch Tricks, Verzögerungstaktik und Verhandlungen mit dem Papst und dem Kaiser erreicht, dass die Zeit vergeht und Luther am Leben bleibt. 

Die gewonnene Zeit nutzte Luther fürs Schreiben. Und da kommt nun wieder der Buchdruck ins Spiel. Alles, was Luther schrieb, wurde sogleich gedruckt, weil es reißend Absatz fand, und es fand reißend Absatz, weil da dieser Resonanzkörper war. Ein Drittel dessen, was im 16. Jahrhundert auf Deutsch gedruckt wird, stammt von Martin Luther. Er ist der erste Journalist, Sachbuch- und Bestseller-Autor der Welt. Und sein Freund, der Maler Lucas Cranach, ist der erste PR-Profi. Die Serienbilder, die er von seinem Helden in Umlauf bringt, machen Luther populär im ganzen Reich.

Dadurch entstand zum ersten Mal so etwas wie Öffentlichkeit. Und in dieser Öffentlichkeit entwickelte sich eine Stimmung für Luther und gegen Rom. Deshalb wurde es von Jahr zu Jahr schwieriger, gegen die öffentliche Meinung Luther zu verbrennen. Hätten sie es getan, hätten sie zwar einen Ketzer verbrannt, aber vielleicht auch einen Märtyrer geschaffen. Und seine Ideen wären trotzdem in der Welt geblieben und hätten sich noch rascher verbreitet. Man kann zwar die Urheber aufrührerischer Ideen umbringen, aber nicht mehr die Ideen. 

Von dieser Erkenntnis war man zu Luthers Zeiten jedoch noch weit entfernt. Besonders die katholische Kirche war weit weg davon. Ähnlich wie heute zahlreiche Menschen, Organisationen, Unternehmen viel zu lange „das Internet nicht verstanden“ haben, so haben damals die Kirche und andere den Buchdruck nicht verstanden.

Sie hatten ihn auch noch nicht verstanden, als die Türkengefahr gebannt und endlich auch ein neuer Kaiser gefunden war. Nun, so dachten sie, könne der Fall Luther auf der größten denkbaren Bühne verhandelt und zum Abschluss gebracht werden, auf dem Reichstag in Worms. Dort sollte es endlich zum Showdown kommen, und zwar nach dem Drehbuch der Kirche: Entweder Luther widerruft, und die Welt ist wieder in Ordnung, oder er widerruft nicht, dann muss er brennen, und danach ist die Ordnung wiederhergestellt.

Es kam anders. Weil die Welt während der zurückliegenden vier Jahre eine andere geworden war, und die mächtigen Herren das aber noch nicht gemerkt hatten. Wäre ihnen bewusst gewesen, wie sehr Luthers massenhaft verbreitete Schriften und Cranachs massenhaft verbreitete Lutherbilder die Welt schon verändert hatten, hätten sie erkannt, wie es töricht es sein musste, Luther ausgerechnet auf einem Reichstag das größtmögliche Forum zu bieten und die Augen aller Welt darauf zu richten. Dass Öffentlichkeit einen Ketzer schützt, lag außerhalb ihres Begriffsvermögens, also zogen sie ihr Ding durch, wie sie schon immer durchgezogen haben.

Und so richteten sie an Luther die Frage aller Fragen: Bist du bereit zu widerrufen?

Und da wirft dieser Luther den höchsten Autoritäten eine ungeheure Provokation vor die Füße und sagt: Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, warum soll ich dann widerrufen? Nur weil der Papst oder irgendwelche Konzilien es fordern? Die haben sich schon öfter selbst widersprochen und sogar geirrt. Was von ihm zu fordern sei, habe daher er allein mit seinem Gewissen vor Gott zu bestimmen, denn es „ist unsicher und bedroht die Seligkeit, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen!“

Dass Luther „Hier stehe ich und kann nicht anders!“ gesagt haben soll, ist schon wieder eine Erfindung derer, denen eine gute Geschichte mindestens so wichtig ist wie das eine oder andere Detail der Wahrheit. Aber die Pointe der Geschichte steckt sowieso nicht in diesem hollywoodesken „Hier stehe ich“. Diese steckt vielmehr in den drei Wörtchen Zeugnisse der SchriftVernunft und Gewissen. Sie, diese drei unscheinbaren Wörtchen, sind die große, welterschütternde Provokation. 

Ein kleines, unbedeutendes Individuum mit der Bibel, seinem Verstand und seinem Gewissen steht vor den mächtigsten Autoritäten der Welt und sagt ihnen: Ihr seid abgesetzt. Mit Eurer Macht und Autorität ist es vorbei. Das hier sind die drei neuen Autoritäten einer neuen Zeit: Schrift, Vernunft und Gewissen

Das hatte vor Luther noch keiner gesagt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Der entsetzte Reichssprecher rief aus, was in diesem Moment viele dachten, die im Saal anwesend waren und Luther gehört hatten: „Martin, lass dein Gewissen fahren! Du bist im Irrtum!“ Sich auf sein privates Gewissen berufen – da könnte ja jeder kommen! 

Im Sitzungssaal wird es nun unruhig, lautes Durcheinander entsteht. Der Kaiser erhebt sich, geht wortlos und hat vermutlich so wenig verstanden, was so eben passiert ist, wie alle anderen, einschließlich Luther.  Martin aber wirft beide Arme in die Luft und lacht und schreit: „Ich bin hindurch! Ich bin hindurch!“

Ja, er war hindurch, insofern er der Erste war, der auf dem Reichstag in Worms einfach eine grundlegend neue Spielregel in die Welt setzte und danach spielte. Was künftig gelten soll, so lautet nun die neue Regel, muss einen Grund in der Bibel haben, vor der allgemein menschlichen Vernunft Bestand haben und von dem Gewissen eines jeden Einzelnen verantwortet werden können. Und wenn diese drei Bedingungen nicht erfüllt sind, dann können Kaiser, Papst und Konzilien beschließen, was sie wollen, es hat für einen freien Christenmenschen keine Gültigkeit mehr. 

Nun müsste Luther eigentlich sofort ins Feuer geworfen werden. Im Prinzip wurde es auch so beschlossen. Aber es geschieht nicht, denn nun merken auch die Kleriker: Luthers Standhaftigkeit hat die ganze Welt mitbekommen. Er hat nicht nur mächtige Verbündete unter deutschen Fürsten, sondern hat vor allem die Öffentlichkeit auf seiner Seite. Ihn jetzt sofort zu verbrennen, wäre unklug und würde die sowieso schon vorhandene Unruhe möglicherweise zu einem Aufruhr entfachen. Also verhängen sie zwar die Reichsacht über ihn, erklären ihn für vogelfrei, aber lassen ihn erst einmal ziehen und fordern seinen Kurfürsten auf, Luther nach Rom auszuliefern,. 

Der Kurfürst hatte das längst geahnt und vorgesorgt. Er lässt Luther entführen und unerkannt auf die Wartburg bringen, wo er mit der Übersetzung der Bibel ins Deutsche beginnt. Als er damit fertig ist, ist im Grunde auch die ganze Reformation schon fertig. Und dabei sind seit dem Thesenanschlag gerade mal vier Jahre vergangen.

In dieser kurzen Zeitspanne hat Luther die Welt verändert. Und zwar mit bloßen Worten. Am Anfang, 1517, war der Thesenanschlag – also Worte. Am Ende, 1521, der Reichstag in Worms. Und wieder ein Wort: Schrift, Vernunft, Gewissen“, später zusammengefasst zu: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir Amen“.

Nur eines fehlte noch: Luthers Selbstentbindung von den Mönchsgelübden und dem Zölibat. Das hat er vier Jahre später durch seine Heirat mit Katharina nachgeholt.


Beitrag veröffentlicht

in

, , ,

von

Schlagwörter:

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert