Die Heilige Schrift
komplett zu lesen, schaffen
die wenigsten. Der Journalist und Buchautor Christian Nürnberger hat die wichtigsten Geschichten in »Keine Bibel« nacherzählt und theologisch interpretiert. Darüber sprach Anke von Legat mit ihm.

komplett zu lesen, schaffen
die wenigsten. Der Journalist und Buchautor Christian Nürnberger hat die wichtigsten Geschichten in »Keine Bibel« nacherzählt und theologisch interpretiert. Darüber sprach Anke von Legat mit ihm.
SAMSTAG, 1. JULI 2017
GASTBEITRAG
Von Christian Nürnberger
Religionen nerven. Sie hassen einander, bringen sich gegenseitig um, köpfen „Ungläubige“ vor laufender Kamera. Schiiten gegen Sunniten gegen Alawiten und alle gegen Juden und Christen. Hindus gegen Muslime. Fundamentalisten aller Religionen gegen Frauen, gegen Schwule.
Alle zusammen nerven besonders einen: den modernen, westlichen, einigermaßen aufgeklärten Durchschnittstyp, dessen absolute Wahrheit lautet, dass es keine absolute Wahrheit gibt. Und das, so dachte dieser säkulare Mensch noch bis vor kurzem, sei eigentlich Konsens, zumindest in Europa. Jeder soll nach seiner eigenen Façon selig werden, aber den anderen mit seiner Seligkeit in Ruhe lassen und nicht gleich von Islamophobie, Kirchenhass, Antisemitismus sprechen, wenn legitime Religionskritik geübt wird.
Aufgrund dieses Ruhebedürfnisses hat der „religiös Unmusikalische“ manch eigentlich intolerable Verhaltensweise großzügig als interessante Marotte einer Minderheit hingenommen, das Frauenverbot der griechisch-orthodoxen Mönche vom Berg Athos zum Beispiel. Seit fast einem Jahrtausend nehmen sie für sich das Recht in Anspruch, an der Eingangspforte ihres heiligen Berges den Frauen zu sagen: Ihr müsst leider draußen bleiben. Man muss sich einmal vorstellen, was in Europa los wäre, wenn die Mönche ihr Verbot geringfügig änderten: Juden haben hier keinen Zutritt. Oder Schwarze. Schwule. Rollstuhlfahrer. Da würden die Gerichte einschreiten. Nur bei Frauen, da geht’s. War ja schon immer so. Altehrwürdige Tradition. Muss man respektieren.
Aber mit dieser Gelassenheit geht es allmählich zu Ende, seit der moderne Säkulare bei sich daheim mit allerlei Forderungen konfrontiert wird, von denen er nicht recht weiß, wie er sich dazu verhalten soll: Kopftücher, Burkas, Minarette, Schächten, Speisegebote, Beschneidungen der Vorhaut, Beschneidungen der Meinungsfreiheit aus Rücksicht auf religiöse Gefühle, Kreuze raus aus den Schulen, Gebetsräume für Muslime rein, Tanzverbot am Karfreitag, keine Fußballspiele am Totensonntag – die Zahl der religiös bedingten Konflikte steigt mit der Zahl der Einwanderer, die ihre kulturellen Hintergründe mitbringen.
Was soll am Schwein unreiner sein als am Schaf?
Der Säkulare möchte damit eigentlich nicht behelligt werden, aber ist gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen, obwohl er nicht besonders bibelfest ist und vom Koran in der Regel überhaupt nichts weiß. Er versteht nicht, warum die Identität eines Mannes an dessen Vorhaut und die Ehre einer Familie am Jungfernhäutchen der Tochter hängen soll. Er weiß nicht, worum es beim Abendmahlsstreit zwischen Protestanten und Katholiken geht, auch nicht, was am Schwein unreiner sein soll als am Schaf. Er versteht nicht, wie ein fehlbarer Mensch des 21. Jahrhunderts anderen fehlbaren Menschen gestatten kann, sich als Papst, Imam oder Oberrabbiner in seine Essensgewohnheiten, ja sogar in sein Sexualleben einzumischen. Es fällt dem modernen Menschen schwer, solch einem Verzicht auf selbstständiges Denken den Respekt zu zollen, der von religiösen Autoritäten lautstark eingeklagt wird. Kritik an diesen Autoritäten, gar Spott, wird abgeschmettert mit dem Begehren, doch keine „religiösen Gefühle“ zu verletzen. Dass solch herrschaftliches Auftreten vielleicht die Gefühle säkularer Menschen verletzen könnte, darauf kommen die Herrschaften nicht.
Darum, Religiöse aus aller Welt, nehmt euch zurück. Hört auf, eure antiken Bräuche mit dem Kern eurer Religion zu verwechseln. Euer Kern ist bei Juden, Christen wie Muslimen derselbe: Nächstenliebe. Frieden. Teilen.
„Kirche für andere“ solle Kirche sein, hat der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer gesagt, ein „religionsloses Christentum“ hatte er gefordert. Das wäre es: Frei von allem religiösen Gedöns einfach seinen Glauben leben, ohne die anderen, den Staat und die Gesellschaft damit zu behelligen. Dann könnte es mit der multi-ethnischen, multi-religiösen, multi-kulturellen Gesellschaft vielleicht doch noch ein gutes Ende nehmen.
Güllen, eine heruntergekommene Kleinstadt irgendwo in Mitteleuropa. Die Leute sind arm, arbeitslos und ohne Hoffnung. Doch plötzlich naht die Rettung. Die Ölmilliardärin Claire Zachanassian, einst in Güllen geboren und aufgewachsen, hat ihren Besuch angekündigt. Alle sind sicher: Sie wird uns helfen – und das will sie auch. Jedoch unter einer Bedingung: Die Güllener sollen einen ihrer Mitbürger, den Krämer Alfred Ill, ermorden.
Dieser Krämer hatte sie vor fünfundvierzig Jahren verleugnet, als sie, seine damalige Freundin, ein Kind von ihm erwartete, deshalb die Stadt verlassen und sich prostituieren musste, um sich und das Kind durchzubringen. Später wurde sie dann reich durch Heirat, und diesen Reichtum setzt sie nun ein, um ihr Verständnis von Gerechtigkeit durchzusetzen.
Natürlich weisen die braven Bürger von Güllen das Ansinnen der alten Dame entrüstet zurück. Der Bürgermeister wirft sich in Pose wie kürzlich der österreichische Kanzler Faymann und spricht feierlich: „Noch sind wir in Europa, noch sind wir keine Heiden. Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab. Im Namen der Menschlichkeit. Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt.“
Die Güllener sind begeistert von ihrem Bürgermeister und berauscht von sich selbst und ihrer Ehrhaftigkeit. Andererseits: Die Not ist groß. Da muss sich doch was deichseln lassen. So ernst wird die alte Dame es schon nicht meinen. Schon machen sie Schulden im Vertrauen darauf, dass die Alte sie doch nicht hängen lassen kann.
Doch die beharrt darauf: Geld wird nur fließen, wenn zuvor Blut fließt, das Blut von Alfred Ill.
Und da kippt die Stimmung in der Stadt allmählich um – nicht zu Lasten der unmenschlichen Alten, nein, zu Lasten von Alfred Ill. Hat er sich sein Schicksal nicht selbst zuzuschreiben? fragen die Bürger plötzlich.
Die Güllener beginnen, in der großen Kiste der Rechtfertigungs-Schablonen zu wühlen und finden Fertigteile wie „Willen zur Gerechtigkeit“ oder „notwendiges Opfer für die Allgemeinheit“, klauben Fragen hervor: War sein Verhalten nicht schweinisch? Hat das gedemütigte Mädchen von damals nicht einen Anspruch auf Sühne? Geschähe es ihm nicht recht, wenn …?
Sie üben sich in der Kunst, die Wirklichkeit nach ihren Interessen zurecht zu lügen und wenden die Begriffe so lange hin und her, bis der eigene Egoismus mit der Moral wieder in Einklang steht. So kommt eine Eigengesetzlichkeit in Gang, die unaufhaltsam auf die Katastrophe zusteuert. Wie von selbst wird aus Unrecht Recht, und am Ende ermorden die braven Güllener ihren Mitbürger während einer Ratsfeier.
Der Philosoph Robert Spaemann hat den „Besuch der alten Dame“, so heißt das Theaterstück von Friedrich Dürrenmatt, das heute zu selten gespielt wird, schon vor längerer Zeit aufgegriffen, als hierzulande erstmals gefragt wurde, wieviel es die Wirtschaft koste, jeden Sonntag die Maschinen abzuschalten. Wer fragt: „Was kostet uns der Sonntag?“, der hat, so sagt Spaemann, den Sonntag bereits zum Abschuss freigegeben. Der als Frage verkleidete Anschlag auf den Sonntag wirkt genau wie der Anschlag der alten Dame in Dürrenmatts Stück. Dessen Figuren beginnen sich nach einiger Zeit mehr unbewusst als bewusst zu fragen, wieviel sie das Leben dieses Mannes eigentlich kostet, und in dem Augenblick sind die Würfel gefallen, ist der Mann verloren.
Heute beginnen wir zu fragen, was uns das Asylrecht kostet, und wieder sind die Würfel bereits gefallen. Der Sonntag aber, genau wie das Asylrecht, stehen als Chiffre für vieles, was unsere Kultur, unsere christlich-abendländische Zivilisation, ausmacht: Alles Humane, das Recht, alles Soziale, also auch all das, wodurch Alte, Kranke, Behinderte, Flüchtlinge, Hilfsbedürftige geschützt werden.
Wer fragt, was der Sonntag kostet, hat ihn bereits in einen Arbeitstag verwandelt und den Gewinn berechnet, der uns entgeht. Und damit ist der Sonntag zerstört. Dessen Wert liegt nämlich gerade darin, dass er ökonomisch nichts bringt, aber Freiheit und Muße ermöglicht. Und auch wer in Deutschland, Litauen, Polen, der Slowakei, Österreich, Ungarn fragt, wie lange wir uns den Luxus des Asylrechts noch leisten können, hat dieses Recht zerstört.
Ökonomisten, die sich als Realisten ausgeben, wenden hier ein: Wir leben nicht mehr auf einer isolierten Insel der Seligen. Unsere Wirtschaft ist weltweit verflochten, und wenn anderswo die Maschinen rund um die Uhr laufen, können wir es uns nicht mehr leisten, sie bei uns abzuschalten. Sonst können wir zwar weiter den Sonntag heiligen, gehen aber bald pleite und dürfen uns nicht beschweren, wenn wir uns dann den Sonntagsbraten nicht mehr leisten können.
Und die Kritiker der Flüchtlingspolitik wenden ein: Wir sind nicht das Weltsozialamt. Unsere Hilfsbereitschaft ist natürlichen Grenzen ausgesetzt.
Stimmt natürlich. Aber wer definiert diese Grenzen? Wieso soll die 500-Millionen-Einwohner-EU an ein paar Millionen Flüchtlingen zugrundegehen?
Solcher Sachzwang-Logik erwidert Spaemann, dass es für freie Wesen überhaupt keine Sachzwänge gebe. In jedem vorgebrachten Sachzwang stecke verborgen bereits ein von bestimmten Wünschen und Wertungen geleiteter Wille. Wem der Feiertag nicht mehr heilig ist, der sieht natürlich einen Zwang ihn abzuschaffen, wenn die Produktionsunterbrechung teuer ist. Und wem das Asylrecht nicht mehr heilig ist, sieht einen Zwang, es abzuschaffen.
Spaemann verallgemeinernd heißt das: Wer soziale Gerechtigkeit nicht als einen ethischen Wert, sondern nur als Investitionshemmnis betrachtet, muss soziale Gerechtigkeit abschaffen. Wer in Arbeitnehmerschutzrechten nur ein Wettbewerbshindernis sieht, muss sie beseitigen. Wem Umweltschutz, Ökosteuern, Jugendschutz, Arbeitnehmerschutz als geschäftsschädigend erscheinen, der muss sie verhindern. Wer Arbeit für eine bloße Ware hält und nicht für ein Grundrecht, muss den Lohn so weit drücken, wie es der Markt hergibt. Wer Gewinnmachen als den alleinigen Sinn des Wirtschaftens begreift, muss alles, was sich dem Gewinnstreben in den Weg stellt, als Unsinn begreifen, auch die Demokratie, auch unsere Verfassung. Und eben auch das Asylrecht.
Freie Wesen jedoch, die sehen, dass es unter veränderten ökonomischen und weltpolitischen Bedingungen plötzlich schwierig wird, an ihren Grundsätzen festzuhalten, beugen sich nicht voreilig scheinbaren Sachzwängen. Stattdessen fragen sie sich: Wie können wir trotz der Veränderungen weiter erfolgreich sein unter der Voraussetzung, dass unsere Grundwerte nun mal nicht zur Disposition stehen? Darin besteht die wahre Herausforderung. Das ist natürlich viel anspruchsvoller als „unsere geheiligten Werte“ bei schlechtem Wetter als Ballast über Bord zu werfen.
Kann man machen. Wäre dann Verrat an unserer Wertegemeinschaft. Und deren Verwandlung in eine Wertpapiergesellschaft. Wer die will, dem soll die Zunge im Mund verfaulen, wenn er wieder von der „Verteidigung des christlichen Abendlandes“ spricht.
Die Religionen dieser Welt treiben’s immer bunter. Vielen Agnostikern und atheistisch-säkularen Zeitgenossen geht das zunehmend auf die Nerven. Es hilft aber nichts, von den Religionen genervt und angeödet zu sein. Europa verwandelt sich gerade in hohem Tempo in eine multikulturelle, multireligiöse, multiethnische Gesellschaft. Soll sie nicht in Antagonismen zerfallen und sich irgendwann zerfleischen, müssen sich die hier Lebenden irgendwie miteinander verständigen und Strategien entwickeln, um friedlich und freundlich miteinander leben und arbeiten zu können. Das bedarf aber einer Auseinandersetzung, die so zu führen wäre, dass man sich hinterher fröhlich zusammensetzen kann. Der ideale Mittler in diesem Verständigungsprozess kann eigentlich nur der Protestantismus sein. Meine Gründe für diese Behauptung können in der aktuellen Ausgabe von publik-forum nachgelesen werden. Online steht derzeit jedoch nur ein Teaser zur Verfügung: http://www.publik-forum.de/Religion-Kirchen/zum-anbeissen
Was die Theologen Rudolf Bultmann und Dietrich Bonhoeffer mit einem zeitgemäßen Protestantismus zu tun haben, was die Protestanten in einen Dialog mit Juden, Muslime und Atheisten in Europa einbringen könnten und wie Christian Nürnberger den Papst und die katholische Konfession sieht, lesen Sie im neuen Publik-Forum, das am Freitag, 22. Mai, erscheint. Christian Nürnberger ist Publizist und Autor zahlreicher Sachbücher.
Den Text als Ganzes stelle ich hier zur Verfügung:
Religionen nerven. Ihre Mitglieder bekämpfen einander, hassen sich, bringen sich gegenseitig um oder köpfen »die Ungläubigen« vor laufender Kamera. Schiiten gegen Sunniten gegen Alawiten gegen Aleviten und alle gegen die Juden. Muslime gegen Christen. Hindus gegen Muslime. Liberale Juden, Protestanten und Katholiken gegen konservative Evangelikale, Traditionalisten, Orthodoxe. Alle zusammen nerven besonders einen: den modernen, westlichen, einigermaßen aufgeklärten Durchschnittsbürger, dessen absolute Wahrheit lautet, dass es keine absolute Wahrheit gibt. Wenn es sie doch geben sollte, dann wird sie keinem Sterblichen zuteil. Und das, so dachte dieser moderne Mensch noch bis vor Kurzem, sei eigentlich Konsens, zumindest in Mitteleuropa.
Vorbei. Kreuze raus aus den Schulen, Gebetsräume für Muslime rein, Speisegebote in den Kantinen, Tanzverbot am Karfreitag, keine Fußballspiele am Totensonntag, Kopftücher, Burkas, Schächten. Beschneidungen der Vorhaut und Beschneidungen der Meinungsfreiheit aus Rücksicht auf religiöse Gefühle oder aus Gründen der Sicherheit vor Terrorismus, Diskussionen über eine Verschärfung des Blasphemie-Paragrafen – die Zahl der religiös bedingten Konflikte steigt mit der Zahl der Einwanderer, die ihre kulturellen und religiösen Hintergründe mitbringen.
Der »normale« Mitteleuropäer möchte davon eigentlich nicht behelligt werden, ist aber gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen, obwohl er nicht besonders bibelfest ist und vom Koran in der Regel überhaupt nichts weiß. Er versteht nicht, warum die Identität eines Mannes an dessen Vorhaut und die Ehre einer Familie am Jungfernhäutchen der Tochter hängen soll. Er weiß nicht, worum es beim Abendmahlsstreit zwischen Protestanten und Katholiken geht, und will es auch gar nicht wissen.
Er weiß auch nicht, was am Schwein schlechter oder unreiner sein soll als am Schaf. Er versteht nicht, wie sich fehlbare Menschen als Papst, Imam oder Oberrabbiner anmaßen können, für alle verbindliche Wahrheiten zu formulieren. Noch weniger versteht er, dass sich im 21. Jahrhundert Millionen Einzelne dem jeweiligen Diktum ihrer Autoritäten unterwerfen und sich bis in ihr Sexualleben hinein vorschreiben lassen, was schicklich sei.
Es fällt ihm schwer, solch einem Verzicht auf selbstständiges Denken den Respekt zu zollen, der von den Autoritäten – allen voran den islamischen – ziemlich laut eingeklagt wird. Dennoch hält er es, wenn auch kopfschüttelnd, aus Gründen der Toleranz und der Freiheit für nötig, die Religionen mit ihrem bunten Treiben gewähren zu lassen. Nur: Sympathischer werden sie ihm dadurch nicht. Glauben erwecken sie so nicht. Statt einer neuen Hinwendung des säkularen Menschen zu religiösen Traditionen erreichen sie dessen endgültige Abwendung.
Das schafft ein weiteres Problem: Gerade jene multiethnischen, multikulturellen, multireligiösen Gesellschaften, die mit wachsendem Tempo in Europa entstehen, brauchen eine Verständigung darüber, wie sie Lagerdenken verhindern, ihrem Zerfall entgegenwirken und freundlich miteinander leben und arbeiten können. Wo wäre der Ort, an dem diese überlebensnotwendige Verständigung stattfinden könnte? Wer könnte sie organisieren, moderieren, entwickeln und voranbringen? Die politischen Parteien? Denen glaubt keiner. Der Staat? Ihm wird misstraut. Also die Kirchen? Aber nur, da bitte ich die Katholiken um Verzeihung, die meinige, die evangelisch-lutherische. Denn es erweist sich nun, dass die ihr oft vorgeworfene und teilweise von ihr selbst so empfundene »Profillosigkeit« in Wahrheit eine Stärke ist.
Ein Profil ist etwas Starres. Es hat zwar wegen seiner klar definierten Struktur eine hohe Wiedererkennbarkeit. Aber was nützt das, wenn das Profil in der Realität nicht greift, nicht auf sie passt? Winterreifenprofile sind zum Beispiel nützlich bei Schnee und Matsch. Im Sommer gefährdet der Winterreifen mit seiner für niedrige Temperaturen konzipierten Gummimischung die Sicherheit des Fahrers. Was es bräuchte, wäre ein dynamisch sich jeder Situation anpassender Reifen. Über diese Dynamik verfügt der Protestantismus wie keine andere Konfession und Religion.
Das liegt daran, dass Protestanten zwar an eine gemeinsame Wahrheit glauben, aber den Versuch unterlassen, diese Wahrheit zu fixieren. Daher visualisiert das Facettenkreuz, das sich einige Landeskirchen, wie etwa die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, als Logo gegeben haben, den Geist des Protestantismus ziemlich gut. Eigentlich bräuchte es statt eines Bildes ein Video. Es wäre eine schwingende, flimmernde, schillernde, ständig seine Gestalt verändernde Form, die zwar als Kreuz erkennbar bleibt, aber sich nie auf eine einzige Form festlegen lässt.
Protestanten wissen, dass sich die eine, absolute, für alle Zeiten und alle Menschen gültige Wahrheit weder erkennen noch formulieren lässt. Sie wissen, dass jedes Gemeindemitglied immer nur seine eigene Teilwahrheit lebt. Trotzdem geben sie den Glauben an eine »gemeinsame Wahrheit dahinter« nicht auf und wirken daher immer rührend hilflos, wenn sie über diese »Wahrheit dahinter« Auskunft geben sollen. Darüber zanken sie auch unentwegt. Aber irgendwann kommt die Einsicht: Wir sind alle Gottes Kinder, darum haben wir die Pflicht, uns zu vertragen.
Weil sie trotz Streit beieinander bleiben, lernen sie, einander auszuhalten und wie nebenbei: Konfliktmanagement, Mediation, Moderation. Sie lernen, ihre eigene Unsicherheit, Unschärfe, Unbestimmtheit zu akzeptieren. Sie lernen, alle großen Probleme differenziert zu betrachten. Und wenn sie das in ihren Denkschriften ausformulieren, kommen Texte von gähnend-langweiliger Ausgewogenheit zustande, die jeden Leser sedieren.
Aber fast immer sind sie auf hohem Reflexionsniveau. Und wenn ein aktiver oder ehemaliger Ratsvorsitzender oder eine Ratsvorsitzende – ob nun Huber, Käßmann, Schneider oder Bedford-Strohm – in der Talkshow spricht, reißt einen das zwar nicht vom Hocker, aber ich bin dann oft ein bisschen stolz auf sie, weil sie eigentlich immer vernünftig, intelligent, menschlich, sympathisch und zumindest dem Anschein nach uneitel »rüberkommen«.
Die seltsame Unbestimmtheit des Protestantismus macht diesen zwar anfällig für Moden und jeden Zeit-, Zweit- und Drittgeist. Nicht selten wird er auch deren Opfer. Aber er berappelt sich wieder und passt gerade deshalb besser in eine multikulturell-säkulare Individualistengesellschaft als jede andere Religion, den uns fremden Buddhismus vielleicht ausgenommen. Der Protestantismus passt auch besser in unsere Welt, weil er für deren Probleme – von der Umwelt über das Klima, die soziale Gerechtigkeit und den Überwachungsstaat – »den Kopf frei hat«, während der Katholizismus sich endlos quält mit seinen »heiligen Kühen«: die Pille, die Priesterschaft für die Frau, die Homosexualität. Dazu noch die Missbrauchsskandale und der sogenannte Protzbischof von Limburg. Die katholische Kirche hat, so scheint es mir, derzeit mehr mit sich selbst zu tun als mit der Welt.
Zu den pragmatischen Gründen für die Zeitgemäßheit des Protestantismus kommt noch ein theologischer. Zwei Namen protestantischer Theologen sind damit verbunden: Rudolf Bultmann und Dietrich Bonhoeffer. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte der damals noch unbekannte Rudolf Bultmann einen aufsehenerregenden Vortrag gehalten, der beinahe zu seinem Rausschmiss aus der evangelischen Kirche geführt hätte. In ihm hatte er gesagt, all die Wundergeschichten, die in der Bibel stehen, die Geschichten über Engel, Dämonen und den Teufel, die Einteilung der Welt in die drei Stockwerke Himmel, Erde, Hölle – das alles seien keine Berichte historischer Ereignisse, sondern Mythen, also Erzählungen, die in einer religiösen Symbolsprache abgefasst sind, aber nicht historische Fakten wiedergeben.
Mythisch sei zum Beispiel die Schilderung von Christus als einem Gotteswesen, das vor aller Zeit existiert, auf Erden menschliche Gestalt annimmt, die Sünden der Menschen trägt, dafür am Kreuz stirbt, am dritten Tage aufersteht, in den Himmel fährt, von dort wieder zurückkommt, und nach einem Ablauf verschiedenster kosmischer Katastrophen die Toten aufweckt, vor Gericht stellt und die gesamte Menschheit in Selige und Verdammte scheidet. Dies alles seien religiöse Vorstellungen, die sich durch das moderne Weltbild erledigt hätten. Man könne nicht, so Bultmann, »elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muss sich klar machen, dass er, wenn er das für die Leistung christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht«.
Bultmann, wenn er heute noch lebte, würde sich wundern über »moderne« Menschen, die sich ihre Horoskope vom Computer errechnen lassen. Aber das nur nebenbei. Wesentlich ist: Bultmann brachte die protestantische Kirche auf den geistigen Stand ihrer Zeit und machte sie anschluss- und diskursfähig im Streit mit dem Atheismus und der Wissenschaft – was manch militanter, noch dem 19. Jahrhundert verhafteter Atheist vom Schlage eines Richard Dawkins offenbar noch nicht bemerkt hat.
Für die Theologie gibt es daher kein intellektuell redliches Zurück mehr hinter Bultmann. Er markiert eine Wegmarke, ein Niveau der Entmythologisierung, das von den diversen katholischen, orthodoxen und islamischen Spielarten erst noch erreicht werden muss. Aber gerade deshalb sind Protestanten bessere Gesprächspartner für moderne Menschen – und vielleicht bessere Geburtshelfer für einen modernen Islam – als dogmatische Atheisten, denen das ganze »religiöse Gedöns« nur auf die Nerven geht.
Für Bultmann hat sich zwar das mythische Weltbild erledigt, nicht aber die eigentliche christliche Wahrheit jenseits des Mythos, die auch für den Menschen von heute noch relevant ist. Zu dieser Wahrheit ist die protestantische Kirche noch unterwegs. Aber immerhin ist sie unterwegs.
Die nächste Wegmarke, die die Religionen, wenn sie denn eine Zukunft haben wollen, erreichen müssen, ist Bonhoeffers religionsloses Christentum. Dieses auf den Kern reduzierte Christentum ist nicht mehr Religion, sondern Glaube. Und als solcher ist er Aufklärung, Religions-, Herrschafts- und Autoritätskritik, Kritik an einem vergöttlichten Kapitalismus, Kritik der Götzen Reichtum, Erfolg, Karriere, Schönheit, Dünnsein, Fitness. Mit Bonhoeffer kommt der Glaube von den Nebensachen – Riten, Dogmen, Speiseverboten, Reinheitsgeboten … – zur Hauptsache. Darin geht’s nicht primär ums Jenseits, nicht um die Zukunft, sondern um das Hier und Jetzt und um die Frage: Was ist das gute Leben, und was muss getan werden, um es zu ermöglichen?
Wie können Juden, Christen, Muslime und Atheisten in Europa friedlich miteinander leben und arbeiten? Wie können wir die Regionen rund ums Mittelmeer zu einem lebenswerten Raum für alle gestalten? Wie überwinden wir die Kluft zwischen Arm und Reich? Wie erhalten wir unseren Planeten für künftige Generationen? Die besten Antworten werden, so erwarte ich es, aus dem Raum des Protestantismus kommen. Die katholische Kirche wird deshalb nicht überflüssig. Ihr Papst wird weiter gebraucht, um den Christen in der Welt eine Stimme zu verleihen. Wenn er den Kapitalismus kritisiert, wird das weltweit gehört. Wenn der EKD-Ratsvorsitzende das tut, stößt es auf begrenztes Interesse. Darum spricht der Papst, wenn er das Richtige sagt, immer auch für die Protestanten mit. Spricht er aber das Falsche, etwa zu Frauen im Priesteramt oder zur Pille oder zu Schwulen und Lesben, widersprechen die Protestanten und sprechen damit vielen Katholiken aus dem Herzen. Es ist also kein großes Unglück, dass es die eine große katholische Kirche und die vielen kleinen chaotischen Schrebergartenkirchen gibt. Sie korrigieren einander und sichern so ihr Überleben.
Dieser Text stammt von der Webseite http://www.publik-forum.de/Publik-Forum-10-2015/zum-anbeissen/3 des Internetauftritts von Publik-Forum
Vor zwei Jahrtausenden wurde auf einem Hügel in Jerusalem von den Römern ein rund 30jähriger Jude ans Kreuz genagelt, von dem seine Anhänger später behaupteten, das sei Gottes Sohn gewesen und er sei an diesem Kreuz für unsere Sünden gestorben. Seitdem sind schätzungsweise tausend Meter Buch dazu geschrieben worden.
Das erste Buch in dieser Tausendmeterreihe, die Bibel, kennen heute nur noch die wenigsten, den Rest nur die Theologen. Und ein paar gebildete Laien haben, wenn’s hoch kommt, ein paar Meter davon gelesen. Diese, die Laien, können mit den Theologen lange, tiefsinnige Gespräche führen über die Bedeutung des Kreuzes für unsere Welt und unsere Zeit, und selbst jene, denen die Bibel nur noch als Sammlung antiker Märchen und Mythen gilt, können tief empfinden beim Anhören der Matthäuspassion.
Alle anderen aber verhalten sich nach dem Grundsatz: Was geht mich diese alte Geschichte heute noch an? Möchte man, dass ein anderer für die eigenen Sünden stirbt? So groß sind die Sünden nun auch wieder nicht, dass es nötig gewesen wäre, dafür einen so jungen unschuldigen Kerl grausam umzubringen.
Gestorben für unsere Schuld. Wenn es wenigstens für unsere Schulden gewesen wäre oder nur für die Schulden der Griechen, dann wäre die alte Geschichte heute hochaktuell und wiese vielleicht den Ausweg aus der Finanz-, Euro-, und Verschuldungskrise. Oder wir wären dank dieser Geschichte nie in diese Krise hineingeschlittert.
Zum Ärger der deutschen Regierung vermengen die Griechen gerade ihre Schulden mit deutscher Schuld – zwei ganz verschiedene Kategorien, die man sauber voneinander trennen sollte, wie unsere Regierung, etliche Medien und viele Deutsche meinen. Dass man diese aber vielleicht doch nicht so gut voneinander trennen kann, und schon gar nicht sauber, dämmerte unsereinem, als er gemütlich vor der Glotze saß, um sich von der ZDF-Politsatire Die Anstalt zu später Stunde amüsieren zu lassen.
http://www.zdf.de/ZDFmediathek/hauptnavigation/sendung-a-bis-z#/beitrag/video/2373950/Reparationen
Die ganze Zeit schon war’s mal wieder um die Griechen gegangen, um die widersinnig erscheinende Exekution neoliberaler Dogmen durch die Troika und die Griechenlandrettung, die in Wahrheit eine Bankenrettung war. Zuletzt brachten Max Uthoff und Claus von Wagner die Verbrechen der Wehrmacht in Griechenland aufs Tapet und die daraus resultierenden Reparationsforderungen, die bis auf den heutigen Tag über 70 Jahre hinweg von jeder deutschen Regierung abgeschmettert worden sind. Das Lachen blieb einem zunehmend im Halse stecken und erstarb am Ende der Sendung ganz.
Da war es zu einem bewegenden Moment gekommen, vielleicht zu einem Stück Fernsehgeschichte: An der Studiowand hing ein Foto, das eine Szene des SS-Massakers im griechischen Dorf Distomo 1944 zeigt. Dann sah man das Foto eines vierjährigen Jungen, und die Kamera schwenkte auf einen weißhaarigen Mann, der im Studio ein paar Meter entfernt von diesem Foto auf einem Stuhl saß und sagte: „Der kleine Junge da, das bin ich.“ Er, Argyris Sfountouris, sei damals, 1944, am Arm seiner Schwester aus dem brennenden Haus geflohen. Seine Eltern, seine Verwandten waren von den Deutschen ermordet worden.
Sfountouris sprach mit einem leichten Schweizer Akzent, was kein Zufall war. Vier Jahre lebte er in griechischen Waisenhäusern, dann brachte ihn eine Rot-Kreuz-Delegation in ein Schweizer Kinderdorf. Dort ging er zur Schule, später studierte er in Zürich Mathematik und Astrophysik. In Distomo organisiert er seit Jahren Jugendbegegnungen mit der Deutschen Schule Athen. Es geht ihm nicht um Geld, sondern um Aufklärung, Wissen, Wahrheit und, ja, das allerdings schon: die Anerkennung von Schuld.
In jenem Moment, in dem ich Sfountouris reden hörte, dachte ich: Wenn der griechische Finanzminister Varoufakis in der ersten Woche seiner Amtszeit einfach geschwiegen und Sfountouris hätte reden lassen, und wenn sich Varoufakis in seinem weiteren Auftreten ein Beispiel an Sfountouris genommen hätte, wären die Verhandlungen mit der EU völlig anders gelaufen. Dieser alte Mann hatte innerhalb von drei Minuten das Publikum im Saal und die Zuschauer daheim für sich eingenommen. Er hätte auch die Medien und die gesamte deutsche und europäische Öffentlichkeit dafür sensibilisiert, dass die Vergangenheit noch immer gegenwärtig ist, besonders die noch nicht bekannte.
Das wäre die Chance gewesen, innezuhalten und grundsätzlicher zu diskutieren. Statt über die Arroganz des griechischen Finanzministers hätten wir über den Zusammenhang von Schuld und Schulden diskutiert. Es wäre Raum gewesen für die Frage, warum es so vielen Griechen so viel schlechter geht, seit sie von der Troika „gerettet“ werden. Es wäre vielleicht sogar die viel grundsätzlichere Frage gestellt geworden, ob es wirklich eine so gute Idee ist, Europa um eine Bank herumzubauen, um eine Bank, die sich jetzt in Frankfurt neben den anderen Banktürmen in den Himmel streckt als ein babylonischer Schuldenturm, der eher als Symbol für die Entzweiung Europas und der dort herrschenden babylonischen Sprachverwirrung taugt denn als Symbol für ein einiges Europa.
Und natürlich wäre auch diskutiert worden, ob es jetzt nicht allmählich an der Zeit sei, die griechischen Reparationsforderungen endlich ernst zu nehmen. Die Hardliner, die sich bisher immer juristisch trickreich durchgesetzt hatten, wären in Argumentationsnöte geraten. Auch die Schlussstrichzieher wären vor der ruhigen Gelassenheit dieses Argyris Sfountouris verstummt.
Die Mehrheit der heute lebenden Deutschen war nicht dabei, als in jenen zwölf Jahren zwischen 1933 und 1945 ein tausendjähriges deutsches Reich errichtet werden sollte, aber die Ungeheuerlichkeit dieser Jahre ragt in unsere Gegenwart hinein und wird es noch in tausend Jahren tun. Wer nach dem Krieg in Deutschland geboren wurde, ist in einen Schuldzusammenhang hineingeboren und dadurch unschuldig schuldig geworden. So muss man es wohl ausdrücken. Es gibt kein „das war ich nicht, und darum geht es mich nichts an“. Wenn mein Vater seinen Nachbarn erschlägt, kann ich zwar nichts dafür, aber das Verbrechen des Vaters haftet dem Sohn noch an, wenn der Vater schon längst tot ist.
Das Opfer des Verbrechens hat Angehörige hinterlassen, Kinder meines Alters, eine Ehefrau im Alter meiner Mutter. Zu ihnen und zur Tat meines Vaters muss ich mich ein Leben lang auf irgendeine Weise verhalten, und das Mindeste, was von mir zu erwarten ist, ist Empathie mit dem Opfer und dessen Angehörigen, das Aussprechen der Wahrheit, die Anerkennung von Schuld, Bitte um und Hoffnung auf Vergebung für den Täter und dessen Nachkommen. Und wenn die Angehörigen des Opfers in Not geraten, sind eigentlich die Angehörigen des Täters die erste Adresse, von der Hilfe kommen sollte.
Darum: Zahlt endlich, Merkel, Schäuble, Gabriel. Zwar wird kaum etwas besser in Europa, wenn Deutschland griechische Reparationsforderungen erfüllt, schon gar nicht schnell. Aber alles wird sehr schnell noch schlechter, wenn Deutschland nichts zahlt.
Die Zahlung könnte den Griechen eine Verschnaufpause ermöglichen und uns allen in Europa eine Pause fürs Nachdenken. Nachdenken darüber, wie es weitergehen soll. Die Zahlung böte die Chance, das vergiftete Klima der vergangenen Wochen zu entgiften.
Zwischen Ostern und Pfingsten liegen fünfzig Tage. Sie könnten genutzt werden, um einen Neuanfang in Europa zu initiieren, der in die Formulierung eines gemeinsamen politischen Willens fließt, und der könnte lauten: Lasst uns anfangen, Europa um eine Idee herum zu bauen.
Die Idee muss nicht erfunden werden. Sie ist seit mehr als zweitausend Jahren in der Welt – die Idee des gekreuzigten Juden.
Geht mich nichts an, werden die Atheisten jetzt mosern.
Geht Euch doch was an, behaupte ich. Die Begründung liefere ich an Ostern.
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Die Lebensgeschichte des Griechen Argyris Sfountouris, der als Vierjähriger das Massaker der Deutschen in Distomo überlebte, wurde bereits vor fast 10 Jahren in einer Dokumentation des Schweizer Filmemachers Stefan Haupt erzählt. Auf youtube findet sich der Film in elf Teilen:
https://www.youtube.com/results?search_query=Ein+Lied+für+Argyris+11
Den Faktencheck zur Sendung “Die Anstalt” gibt es unter: http://www.zdf.de/ZDF/zdfportal/blob/37830270/2/data.pdf
Einen guten Artikel zur Frage der Reparationen liefert die NZZ unter:
Zum Auftritt von Argyris Sfountouris schrieb die SZ: http://www.sueddeutsche.de/politik/profil-argyris-sfountouris-1.2419479
In hoffnungslosen Lagen, wenn der Untergang nicht mehr abzuwenden ist, dies aber noch niemand wahrhaben will, findet ein letztes Aufbäumen statt. Irgend jemand vermutet dann, dass sich das Unvermeidliche vielleicht doch noch vermeiden ließe, wenn nur alle Beteiligten einmütig zusammenstünden. In solch einer Lage wird oft die Parole ‘Lasst uns daran glauben’ ausgegeben.
Das ist der Moment, in dem es klüger wäre, sich auf eine alte Indianerweisheit zu besinnen: ‘Wenn du merkst, dass du ein totes Pferd reitest, steig” ab.’
Aber Reiter toter Pferde fühlen sich häufig für viele verantwortlich. Also kann die Losung nur lauten: weiter reiten. Und so bleiben sie sitzen, versuchen sich an der Wiederbelebung ihrer toten Klepper und probieren tausend Dinge, von denen von vornherein klar ist, dass sie nicht funktionieren werden. Das Ergebnis ist rasender Stillstand, Leerlauf in höchster Drehzahl und die Ablenkung vom Absurden durch Ausstoß großer Mengen von Bullshit.
Er ist der Schurke in einem Stück, das seit zwei Jahrtausenden erzählt wird: Judas Iskariot, der Mann, der Jesus ans Kreuz geliefert hat. Für dreißig Silberlinge und mit einem Kuss – eine Szene, die sich tief ins christlich-abendländische Bewusstsein eingegraben hat: Und als er noch redete, siehe, da kam Judas, der Zwölf einer, und mit ihm eine große Schar, . und der Verräter hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt: Welchen ich küssen werde, der ist’s; den greifet.
Jesus wird verurteilt, gekreuzigt und begraben, auferweckt nach drei Tagen und seinen Jüngern erscheinen. Aber es sind nur noch elf. Judas ist nicht mehr dabei. Matthäus berichtet, Judas habe sich aus Reue und Verzweiflung erhängt, vorher aber die dreißig Silberlinge an die Hohepriester zurückzugeben versucht. Diese lehnten die Annahme des »Blutgeldes« ab, und so hat er es einfach in den Tempel geworfen. Laut der Apostelgeschichte hat Judas sich für das Blutgeld einen Acker gekauft. Dort sei sein Leib mitten entzweigeborsten und ha-be seine Eingeweide freigegeben.
Jesus lebt. Mit diesem einfachen Satz hat Ostern damals begonnen. Gekreuzigt, aber lebendig: Die Neuigkeit verbreitete sich unter seinen verzweifelten Anhängern, sie staunten und sagten es weiter, schließlich strömten sie aus allen Teilen des Landes zusammen, um sich zu versammeln. »Ein Brausen kam vom Himmel«, heißt es in der Bibel, züngelndes Feuer leckte nach ihren Köpfen, der Geist erfüllte sie, und plötzlich verstanden alle einander, obwohl sie in verschiedenen Sprachen redeten. Jesus lebt die babylonische Sprachverwirrung war beendet. Wir wissen nicht, was damals wirklich passiert ist. Wir wissen nur: Eine Versammlung von Menschen hatte plötzlich eine unglaubliche Kraft entwickelt, eine Kraft, die für 2000 Jahre christliche Geschichte reichen sollte. Heute erinnern in den Kirchen brennende Kerzen an diese gewaltige Energie. Manche Gemeinden entfachen in der Osternacht das Osterfeuer, und der Pfarrer sagt: Jesus lebt. Aber es scheint, als könne das Feuer dieses Satzes niemanden mehr entzünden. Wenn der Satz geglaubt würde, müssten den Christen eigentlich Flügel wachsen, die Gemeinden müssten vor Kraft strotzen, ihre begeisterten Mitglieder müssten an Ostern durch die Straßen rennen und jedem ins Ohr brüllen: »Gott lebt! Wirklich, er lebt!« Stattdessen stehen sie mit allen anderen im Stau auf der Autobahn.
Komisch, der Papst war da, und ich bin missgestimmt. Na gut, man ist ja auch nur ein mittelfränkisch-protestantischer Agnostiker, so einen geht der Papst gleich dreimal nichts an. Nur, als dieser Mann zum Papst gewählt wurde, da war ich froh gestimmt. Schlimmer noch: Als der Kardinal für dieselben Medien, die jetzt wie besoffen um ihn herumtorkeln, noch der erzböse Großinquisitor war und die Meute zuverlässig laut aufschrie, wenn aus Rom mal wieder eine weltfremde Direktive kam, habe ich unter dem Gelächter meiner intellektuellen Freunde den Kardinal und seinen polnischen Papst immer trotzig als die letzten Pfeiler im Sumpf der orientierungslosen westlich-libertären Anything-goes-Gesellschaft verteidigt.Später beobachtete ich die irritierten Gesichter meiner Freunde, als sich plötzlich deren Hausheiliger – Jürgen Habermas – ausgerechnet mit diesem Panzerkardinal zusammen- und auseinandersetzte und dabei herauskam, dass beide, obwohl sie irgendwie Antipoden sind, vielleicht etwas Gemeinsames zu verteidigen haben, nämlich die westliche Wertegemeinschaft gegen die westliche Wertpapiergesellschaft und deren Mantra »Erlaubt ist, was sich rechnet«.
Alle zwei Jahre das gleiche Wunder: Eine uralte Dame legt sich unter das Messer des Schönheitschirurgen, räumt die Kosmetikregale der Drogerien ab, begibt sich ins Scheinwerferlicht, wirbelt wie Marika Rökk übers Parkett und ruft in die Menge: „Seht her, wie jung ich bin; seht her, wie modern ich bin; laßt uns raven, grooven, schmusen, abhotten und ganz viel Spaß haben.“
Und die Jugend, angelockt von diesem zeitgemäßen Ton, kommt; denn trotz finanzieller Probleme hat die Dame noch immer Geld genug, um eine Party zu schmeißen. Deshalb findet die Jugend die Alte ziemlich cool und nimmt es ihr auch nicht übel, daß sie irgendwann doch noch ihre alten Geschichten erzählt, zumal sie sich redlich müht, das Altbekannte möglichst trendy zu stylen. Zweitausend Jahre ist die Dame alt; sie heißt Ecclesia oder Kirche, und in Stuttgart hatte sie gerade wieder ihre tollen Tage.