Dies ist – unter anderem – eine scharfe Verurteilung der Kirche. Aber sie fußt auf einem Artikel, den ich kürzlich im “Georg” veröffentlicht habe, dem Magazin der von Jesuiten betriebenen Frankfurter Hochschule St. Georg. Dass die so etwas drucken, lässt hoffen …
Angehörige meiner Generation – ich werde in ein paar Monaten 73 – lebten lange in der Gewissheit, dass das Unvorstellbare draußen vor der Tür bleibt, weil es das Unmögliche ist. Dann wurde Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.
Danach haben wir erlebt, dass ein paar Milliarden Viren, die zusammengenommen ein paar hundert Gramm wiegen, die ganze Welt lahmlegen können. Nannte sich Corona. Kaum war es vorbei, überfiel Wladimir Putin die Ukraine. Viele Deutsche konnten sich bis zum Tag vor dem Überfall nicht vorstellen, dass Putin das wirklich tun würde.
Als Trump abgewählt wurde, dachten wir, ok, war halt ein Betriebsunfall, ab jetzt wieder Normalität. Knapp vier Jahre später erscheint das Unvorstellbare zum zweiten Mal als Möglichkeit am Horizont: Dass der geistig Irre von einem Volk von geistig Irren wiedergewählt wird und er möglicherweise aus dem Gefängnis heraus regiert. Wird das die neue Normalität?
Am 7. Oktober dieses Jahres schließlich ein unvorstellbarer Brutalitäts-Exzess, die schlimmste und teuflischste Gewaltorgie seit dem Holocaust: Es dauerte Wochen, um die Leichen von israelischen Frauen, Kindern und Jugendlichen zu identifizieren, denn diese Menschen waren von der Hamas geköpft, verstümmelt, vergewaltigt, zerschmettert, bei lebendigem Leib verbrannt worden.
Noch unvorstellbarer war dann die sofortige Täter-Opfer-Umkehr, wie ich sie in diesem Ausmaß noch nicht erlebt habe. Weltweit sind Menschen auf die Straße gegangen, aber nicht, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre, um gegen die Hamas zu protestieren, sondern um sie zu feiern. Nie hätte ich gedacht, dass das auch in Deutschland möglich sei. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass Haustüren, hinter denen deutsche Juden leben, heute wieder mit Davidssternen markiert werden, und auch nicht, dass hier lebende jüdische Menschen wieder ihre Koffer packen und abhauen. Und nie hätte ich mir träumen lassen, dass jüdische Student*innen an US-Universitäten von einem antisemitischen Mob angegriffen werden und sich vor denen verbarrikadieren müssen, mit denen sie bis vor kurzem friedlich studiert hatten.
Er war nie weg
Er war nie weg, der Antisemitismus, schwelte immer weiter, aber konnte von demokratischen Staaten halbwegs so unter Kontrolle gehalten werden, dass er nicht mehr zum großen Flächenbrand werden konnte. Wo er hier und da aufloderte, tat er es meistens getarnt im Gewand der Israelkritik. Splitternackt, wie etwa beim Anschlag auf die Synagoge in Halle, ging er nur selten über die Straße.
Aber jetzt, ausgerechnet jetzt, nach einem brutalstmöglichen Verbrechen an israelischen Zivilisten, zeigt er sich nackt und schamlos. Mit mehreren Gesichtern. Der bekannte biodeutsche und alteuropäische und der auch nicht mehr ganz neue muslimische Antisemitismus haben Zulauf bekommen von relativ neuen Antisemitismen der postkolonialen und queerfeministischen Theoretiker*innen und dem klimaaktivistischen Antisemitismus einer Greta Thunberg.
Lässt sich das verstehen, erklären? Wohl kaum. Ja, es gab Zeichen: die immer brutaler werdende Sprache in den sogenannten sozialen Medien, die wachsende Feindseligkeit aller gegen alle, das von Desinformation, Lüge, Hetze und Hass überquellende Internet, die um sich greifende Frauenverachtung, Homophobie, der Sexismus, Rassismus und Nationalismus, der Triumph der Diktatoren dieser Welt, die Vergiftung der Hirne durch die Propagandamaschinen dieser Diktatoren und die bereitwillige Zusammenarbeit der Internetkonzerne mit den Feinden der Demokratie. Und was immer deutlicher auffällt: Femizide. Frauen werden ermordet, weil sie Frauen sind. In Indien werden Muslime ermordet, weil sie Muslime sind. Und schon lange werden in Europa Europäer*innen ermordet, weil sie „Ungläubige“ sind oder „den Propheten beleidigt“ haben.
Jetzt hat es den Anschein, als ob all diese übersteigerten, fanatischen „-ismen“ zusammenfließen wie Flüsse, um in einem einzigen Strom aufzugehen: dem Antisemitismus. Warum?
Ich weiß es nicht. Aber ich habe den Eindruck, dass wir um Jahrtausende zurückgeworfen worden sind und wir trotz unserer Wissenschaft, unseren künstlichen Intelligenzen und unserer Aufgeklärtheit wieder da stehen, wo vor zweieinhalb bis drei Jahrtausenden jene Geschichte begann, die mit der Gewalt und dem Hass ein für alle Mal Schluss machen wollte. Dieses Gefühl überkam mich nach der Lektüre eines Berichts der Süddeutschen Zeitung von Georg Mascolo. Er erwähnte darin eine Audio-Aufnahme, auf der man hört, wie ein Hamas-Killer seinen Vater anruft und sich damit brüstet, zehn Juden getötet zu haben. “Ihr Blut ist an meinen Händen. Euer Sohn ist ein Held.” (SZ, 4.11.23, “Vor der Bilderflut”)
Ich dachte sofort an Lamech. Lamech, ein Nachkomme von Kain, gibt sich nicht mit der Blutrache zufrieden, also dem Prinzip für verhältnismäßige Gewalt: ein Leben für ein Leben. Nein, Lamech prahlt vor seinen Frauen: „Einen Mann erschlage ich für eine Wunde, und einen Knaben für eine Strieme. Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach.“
Die Endlos-Spirale „maßlose Vergeltung, noch maßlosere Vergeltung der Vergeltung, katastrophale Vergeltung der Vergeltung der Vergeltung“ hatte ihren Anfang genommen. Neid, Hass, Mord, Rache, Gewalt sind das große Anfangsthema der Bibel. Schon in der zweiten Menschheits-Generation ein Brudermord – Kain erschlägt den Abel. Und so geht es weiter bis zu Lamech.
Das „Dichten und Trachten“ seiner Geschöpfe sei „böse von Jugend auf“, musste sich Gott eingestehen und hielt darum seine Schöpfung für missraten und wusste keinen anderen Weg mehr, als sie zurückzunehmen. Er schickte die Sintflut, unter der alles menschliche Leben erstirbt – bis auf Noah. Mit ihm wollte er einen Neuanfang versuchen.
Aber auch der misslang. Das Hauen und Stechen unter den Menschen ging weiter und endete im Turmbau von Babel. Die Menschen verloren darüber ihre Fähigkeit, sich zu verständigen und gerieten dadurch in die „Zerstreuung“, wie es in der Bibel heißt, in die Vereinzelung.
Schule der Empathie
Der ganze Anfang der Bibel besteht aus dieser Verfallsgeschichte, einer einzigen Unheilsgeschichte. Aber da fängt die Bibel nun eigentlich erst an, denn jetzt soll eine Heilsgeschichte beginnen. Jetzt, so könnte man sagen, hat Gott eine Idee.
Die Idee lautet: Ich, Gott, brauche ein Volk. Diesem Volk will ich beibringen, wie man leben muss, damit das Leben aller gelingt. Alle anderen Völker sollen das dann von diesem Volk lernen. Das ist im Grund die ganze Idee der Heilsgeschichte und der Bibel.
Freiwillig, ohne Zwang, aus Einsicht soll dieses Volk Gottes Gesetz befolgen. Aus Freiheit soll es sich an ihn binden und damit die Erfahrung machen, dass daraus ein gutes Leben für jeden einzelnen Menschen entsteht.
Was in der Bibel „Gesetz Gottes“ genannt wird, ist eine Sozialordnung, und die muss man, wenn man unterm Zwang zur Kürze steht, herunterbrechen auf ein paar Regeln, die so oder so ähnlich immer wieder auftauchen, und zwar schon im Alten Testament. Dann lässt sich das Regelwerk so zusammenfassen:
Gerechtigkeit soll herrschen. Es darf keinen Armen unter euch geben. Not muss beseitigt werden. Ein Leben in Wohlstand zu erstreben, ist nichts Böses. Milch und Honig sollen fließen, allerdings gerecht verteilt werden. Flüchtlingen muss geholfen werden. Mächtige dürfen, ja müssen kritisiert werden. Die Herrschaft von Menschen über Menschen soll aufhören. Vor Gott zählt jeder gleich viel. Der Ziegenhirt in seinen Lumpen ist vor Gott nicht kleiner als der Pharao in seiner Pracht. Und, ja, auch das lässt sich herauslesen aus dem patriarchalen Buch: Es geht nicht ohne die Frauen. Schließlich: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, auch deine Feinde. Heil kann die Welt aber nur durch den Glauben werden.
Dort, wo sich die Menschen an dieses Gesetz halten, braucht es keine Polizei und keine Armee mehr, denn dort herrscht Frieden unter den Menschen – so lautete Gottes Utopie.
Zusammengenommen beschreiben diese Regeln den Bauplan für eine Schule der Empathie. Wir kennen sie seit Jahrtausenden. Es ist eine Schule, auf die sich im Prinzip so gut wie alle einigen können müssten, Juden, Christen und Muslime genauso wie Hindus, Buddhisten und Atheisten. Nur wurde die Schule nie gebaut. Oder wenn, dann immer nur für kurze Zeit.
Schon Jesus hatte seinem Volk vorgeworfen, nie wirklich Ernst gemacht zu haben mit dem Plan. Seine Jünger*innen und deren Nachfolger*innen sollten nun endlich damit anfangen. In den ersten drei Jahrhunderten schien das ganz gut geklappt zu haben – bis ein römischer Kaiser das neue Christentum zur Staatsreligion erhob und das Bündnis von Thron und Altar seinen Lauf nahm. Es war die Ursünde des Christentums. Daraus entstand die Kirche, eine machtförmige, hierarchisch geordnete Organisation, vom Kaiser „gesegnet“ mit Ämtern, Pfründen und Privilegien. Seitdem wird das Erbe der Urchristenheit verspielt.
Die „Diener Gottes“ entwickelten sich zu Herren über die Menschen. Der mittelalterliche Fürstbischof verkündete zwar weiterhin die Botschaft des Gekreuzigten, oder was er dafür hielt, aber ob der Bauer, von dessen Korn er lebte, Not leidet oder nicht, interessierte ihn nicht. Als Amerika „entdeckt“ wurde, erteilte der Papst den „Entdeckern“ die Erlaubnis, den “Entdeckten” ihr Land und alles, was ihnen gehörte, abzunehmen. Auf diesem Land proklamierten sie, was heute die westliche Wertegemeinschaft genannt wird:
„Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“
Wertegemeinschaft oder Wertpapiergesellschaft?
Der Begriff westliche Wertpapiergesellschaft hätte besser getroffen, was geschah, denn zum Zeitpunkt jener feierlichen Proklamation dieser “unveräußerlichen Menschenrechte” am 4. Juli 1776 in den USA hatten die hauptsächlich europäischen Einwanderer den fünf bis sieben Millionen indigenen Ureinwohnern schon fast das gesamte Land gestohlen, sie massakriert, ermordet, vertrieben, marginalisiert, ihre Büffelherden totgeschossen, ihnen die Lebensgrundlagen geraubt, sie mit ihren Krankheiten verseucht und alkoholabhängig gemacht. Der Wohlstand der westlichen Länder wuchs aus den Knochenbergen dieser versklavten, ausgeraubten und getöteten Menschen. Immer mit dem Segen der Kirche, die auch von diesem Reichtum profitierte.
Als dann die Ideen von Freiheit, Gleichheit, Demokratie in Europa zu spuken begannen, entpuppte sich die Kirche als ihr größter Gegner, verbündete sich mit den Kaisern und Königen gegen die demokratischen Kräfte. Aus der revolutionären Maria, die einst sang, “die Mächtigen stürzt er vom Thron und erhebt die Niedrigen, die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen“ – aus dieser Revolutionärin hat die Kirche die „Unbefleckte“ gemacht, die Jungfrau, die Reine, das Gottesmuttchen, das keinem Mächtigen mehr gefährlich werden konnte.
Inzwischen haben wir die Kirche als eine Institution kennengelernt, in deren scheinbar geschützten Räumen Kinder, Jugendliche, Frauen sexuell und geistlich missbraucht, geschlagen und an Geist, Leib und Seele verletzt wurden. Darum kann sie nun predigen, was sie will. Es hört niemand mehr hin. Sie kann auf das Gute verweisen, das es auch gegeben hat und das durch die Kirche in die Welt gekommen ist, nur nützt das nichts mehr. Die Mehrheit der Menschen ist fertig mit ihr. Das Kapital, das Jesus und die Urchristen erschaffen hatten, ist verspielt.
Und das ist eine Tragödie. Denn jetzt, gerade jetzt, könnten Juden, Christen, Muslime wertvolle Dienste leisten inmitten einer orientierungslosen, von Lüge und Gewalt gebeutelten Welt. Nichts bräuchte die Welt jetzt so dringend wie das, was im Alten Testament „das Gesetz“ genannt wird. Nichts wäre für Juden, Christen, Muslime leichter, als sich auf eben dieses Gesetz zu einigen, denn dessen Geist schwebt über allen drei Weltreligionen.
Aber in jeder der drei Religionen haben die Scharfmacher das Sagen, die Missbraucher, Islamisten, Fundamentalisten, Evangelikalen, Nationalisten, Misogynen, Homophoben, Rassisten und Antisemiten. So sehr sie sich auch voneinander unterscheiden, in der Ablehnung unserer aufgeklärten, demokratischen Zivilgesellschaft sind sie sich einig, denn diese bedroht ihre Macht.
Was tun? Wie ihnen das Handwerk legen?
Mir fällt nichts Besseres ein als: Es noch einmal versuchen. Noch einmal neu anfangen. Gemeinsam die Schule der Empathie bauen, von unten. So ähnlich wie in Israel. Dort, so höre ich von meiner Tochter, die als Politikredakteurin der FAS gerade aus Tel Aviv, Haifa und Jerusalem zurückgekommen ist, gibt es israelische Unternehmer, die weiter Palästinenser beschäftigen, und israelische Helfer*innen, die sich um palästinensische Opfer des Gaza-Kriegs kümmern, auch noch, nachdem eines ihrer Mitglieder von der Hamas getötet wurde.
Es gibt Muslime, die sich für die Taten der Hamas schämen. Es gibt Juden, die sich für die israelische Besatzungspolitik, die rechtsradikale Regierung und die nationalistisch-religiösen Siedler schämen. Und es gibt Muslime, die keine Antisemiten sind.
Mit solchen Menschen muss man anfangen. Ob wir dafür allerdings noch einmal 3.000 Jahre Zeit haben? Ich weiß es nicht.
Tut mir leid, dass ich keine fröhlichere Botschaft habe. Aber halten wir uns an die, die es versucht haben: Dietrich Bonhoeffer und andere Widerstandskämpfer, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Martin Luther King. Vergessen wir die iranischen Frauen nicht. Denken wir an Alexeij Nawalny, der verschwunden war, und von dem wir bis heute nicht wussten, ob er noch lebt. Gott sei Dank, er lebt. Wir wissen auch nicht, wie es Maria Kolesnikowa geht, jener mutigen Belarussin, die fröhlich einen Aufstand gegen den Verbrecher Lukaschenko angeführt hatte und seit 2020 unter widrigsten Bedingungen im Gefängnis sitzt. Vergessen wir sie nicht. Unterstützen wir die Menschen in Israel und Palästina, die jetzt über Gräben hinweg einander die Hand reichen. Sorgen wir dafür, dass Putin seinen Krieg nicht gewinnt. Hören wir nicht auf, unsere Stimme zu erheben gegen die Lügner, Hetzer und Zerstörer von Empathie und Menschlichkeit. Hören wir nicht auf, dafür zu sorgen, dass Gottes Utopie – die ja in Wahrheit eine Utopie der Verfasser der Bibel ist – wahr wird.
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