Mutige Menschen – Widerstand im Dritten Reich

Interview mit Christian Nürnberger

Der zweite Band, der sich mit mutigen Menschen beschäftigt, ist ganz den Widerstandskämpfern der NS-Zeit gewidmet. Welche persönliche Bedeutung hat dieses Thema für Sie?

Ich hätte gern zu meinem Land und zu der Geschichte unseres Landes ein so unverkrampftes Verhältnis wie es die Franzosen oder Briten haben. Das geht leider nicht, eben wegen unserer Geschichte. Ich hätte gern, dass uns Briten, Franzosen, Italiener so lieben wie wir sie. Aber ich kann verstehen, dass sie das nicht können.

Noch heute gelingt es mir nicht, einem Juden – gleich welchen Alters – unbefangen zu begegnen. Wenn es dazu kommt, muss ich mich zwingen, nicht gleich damit herauszuplatzen, dass meine Eltern leider keine Juden versteckt, aber zum Glück auch keinen an die Nazis ausgeliefert und sich auch nicht an jüdischem Eigentum vergriffen haben, dass sie zwar Mitläufer waren, zugleich aber kleine Leute ohne Macht, deren größtes Vergehen in ihrem Schweigen bestanden hat. Und dass ich mich dafür schäme.

An diesen zwei Absätzen mag man erkennen, welche Bedeutung dieses Thema für mich und eigentlich für jeden Deutschen hat. Es gehört zu jenen wenigen Themen, mit denen man nie fertig wird, die einen immer wieder beschäftigen, ja fast heimsuchen, belästigen und einen daran hindern, ein unbeschwertes Leben zu führen. Man ist Angehöriger eines „Tätervolks“. Es ist, als ob man in einem kleinen Dorf lebt, in dem die eigenen Eltern einige Nachbarfamilien ermordet haben, und ein paar Verwandte der Ermordeten und deren Nachkommen leben weiterhin in diesem Dorf. Man ist für die Tat seiner Eltern nicht verantwortlich, aber allein durch das Leben in Nachbarschaft mit den Nachkommen der Ermordeten wird man täglich mit dem Geschehenen konfrontiert. Es gibt einen Tatort. Es gibt die Mord-Instrumente. Es gibt Gräber. Es gibt Berichte über den Tathergang, es gibt noch ein paar offene Fragen, und es gibt die Nachkommen der Opfer, die auf die Antworten warten, die uns genau beobachten und uns wenig Vertrauen entgegenbringen, um so weniger, je weniger wir von der Vergangenheit wissen wollen. Je weniger wir wissen wollen, desto heftiger erinnern uns die Nachkommen der Ermordeten daran, was unsere Eltern deren Eltern angetan haben.

Das ist eine Last, derer man sich gern entledigen würde. Eine Last, bei der man sich fragt, wie lange wir sie noch tragen müssen. Ich kann das, was man als „Schlussstrich-Mentalität“ bezeichnet, gut verstehen. Dieses Begehren, die Vergangenheit ruhen zu lassen, jenes Verlangen nach dem Motto „nun ist es aber gut, einmal muss Schluss sein, lasst uns nach vorne schauen“, verbunden mit dem Gefühl, selber unschuldig zu sein, weil man ja erst „danach“ geboren wurde, das alles kenne ich aus meinem eigenen Leben auch. Ich war vielleicht fünfundzwanzig, als sich dieses Gefühl bei mir zum ersten Mal eingestellt hatte.

Vorausgegangen war eine lange Beschäftigung mit dem Thema. Nachdem ich als Teenager zum ersten Mal davon gehört hatte und einfach nur entsetzt war, wollte ich mehr wissen, wollte verstehen, habe deshalb die sehr dicke Hitler-Biografie von Alan Bullock gelesen und mir jeden Film und jede TV-Dokumentation zu dem Thema angesehen. Auch mit meinen Eltern, kleinen Leuten, Mitläufern, habe ich immer wieder über die Hitler-Zeit diskutiert, jeden Zeitungsartikel zu dem Thema, sogar Schulbücher, und 1973 die noch dickere Hitler-Biografie von Joachim C. Fest hatte ich gelesen – bis ich das Gefühl hatte, genug zu wissen und die Vergangenheit „aufgearbeitet“ zu haben. Von da an wollte ich von dem Thema nichts mehr wissen.

Als 1978 der Fernseh-Vierteiler „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß“ lief und alle Welt darüber redete, hatte ich für mich ganz bewusst entschieden: Das tust du dir nicht an. Ich war des Aufgewühltseins müde. Die Sache entsetzte mich ja immer wieder aufs Neue, es gab keinen Abstumpfungs-Effekt, sondern eher, im Gegenteil, einen wachsenden Schmerz, sodass ich mir aus einem Gefühl des Selbstschutzes heraus sagte: Es reicht jetzt. Genug gelitten mit den Opfern, die Täter gebührend verabscheut, Hitler und die Nazis so intensiv gehasst, dass ich für alle Zukunft gegen jede Form von Totalitarismus immun sein werde und weiterer Belehrungen und Informationen nicht mehr bedarf.

 

Ich war wirklich relativ gut informiert damals. Verstanden jedoch hatte ich noch nicht. Verstanden hatte ich erst, als ich anfing, mich zu fragen, wie ich mich damals verhalten hätte und ich begann, mir einzugestehen: Wahrscheinlich hättest du mitgemacht. Eher wärst du ein SA- oder SS-Mann geworden als ein Widerstandskämpfer, denn als Teenager und junger Mann war ich noch verführbar, nicht charakterfest, nicht reif und nicht gebildet genug. In einer Welt, in der fast alle das Abnorme tun, erscheint das Abnorme als normal, und mir wäre es vermutlich auch als normal erschienen. Bis heute weiß ich nicht, ob ich heute, als fast 60-Jähriger, widerstehen würde. Den Tod fürchte ich nicht mehr, aber ich habe eine Ehefrau und zwei Kinder. Dürfte ich deren Leben aufs Spiel setzen? Es wäre ein entsetzlicher Konflikt. Das anhaltende Erschrecken über solche Fragen führt dann doch zu einer anhaltenden Beschäftigung mit dem Thema.

Als 1985 „Shoah“ gezeigt wurde, ein vierteiliger Dokumentarfilm des Regisseurs Claude Lanzmann, war ich wieder bereit, mich mit der Sache auszusetzen, hörte den Tätern zu, den KZ-Wächtern – und diesmal nicht mehr mit der üblichen Empörung, sondern mit einem Gefühl des Erbarmens aus dem beklemmenden Wissen heraus: Dieser KZ-Scherge, dieser banale Böse, der am Heiligen Abend ein paar Dutzend Juden in die Gaskammer getrieben hat und danach zu seiner Familie nach Hause ging und vor dem Weihnachtsbaum „Stille Nacht, heilige Nacht“ und „O du fröhliche“ sang, dieses Monster in Gestalt eines biederen Familienvaters, das könntest du sein. Dass du es nicht bist, ist reines Glück, allein dem Umstand geschuldet, dass du noch nicht gelebt hast damals. Dazu gesellte sich die nicht minder beklemmende Einsicht, dass dieses Monster in vielen Menschen steckt, auch heute, es müssen nur ein paar äußere Faktoren zusammentreffen, und schon kommt das Monster zum Vorschein. Es ist und bleibt erschreckend, was Verbrecher-Regime wie die von Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot, Franco, Mussolini aus Menschen machen, was sie mit ihnen anstellen, wie sie Menschen deformieren, entkernen, zerstören. Man wird nicht fertig mit diesem Erschrecken, daher wird es mich bis zum Rest meines Lebens begleiten.

Nach welchen Kriterien haben Sie diese zwölf Personen ausgewählt? Wie haben Sie recherchiert?

Die ausgewählten Personen sollten einen Querschnitt unterschiedlichster Menschen und Motive repräsentieren, also den zivilen Widerstand und den militärischen, den organisierten Widerstand größerer Verschwörergruppen, und den eines Einzeltäters wie Georg Elser. Meistens waren es gestandene Männer, die Widerstand leisteten, aber sie taten es in der Regel mit dem Einverständnis ihrer Ehefrauen. Manchmal waren aber auch junge Menschen aktiv, wie die Münchner Studentengruppe „Weiße Rose“, deren jüngstes Mitglied eine Frau war, die 21-jährige Sophie Scholl. Auffallend ist, dass viele Widerstandskämpfer aus christlichen Motiven in diesen Kampf auf Leben und Tod getrieben wurden. Andere, vor allem Gewerkschafter und Sozialdemokraten, hatten humanistische oder rein politische Motive. Diese Vielfalt soll durch die zwölf Porträts zum Ausdruck kommen. Die Recherche bestand überwiegend aus der Lektüre reichlich vorhandener Literatur. Auch einige Filme und TV-Dokus habe ich mir noch einmal angesehen.

Was macht einen Menschen aus, der erkennt, dass er gegen die große Mehrheit seine eigene Meinung vertreten muss? Ist es nur Mut und ungeheueres Selbstbewusstsein?

Nein, es ist vor allem ein hoch entwickeltes Gespür für Recht und Unrecht, es ist Empathie, die Fähigkeit mit den Opfern zu leiden, die Überzeugung, dass es etwas gibt, was das eigene Leben übersteigt, und die Gewissheit, dass bestimmte grundlegende Normen unbedingt gelten müssen, und koste es das eigene Leben.

Aller Widerstand führte erst einmal nicht zum Ziel – Hitler zu stürzen. Warum sollten wir uns diese wenigen Mutigen, die oft mit dem Leben für ihren Widerstand bezahlt haben, trotzdem immer in Erinnerung rufen?

Weil es bei uns diesen großen Mut nicht braucht. Bei uns genügt schon Zivilcourage, aber nicht einmal das bisschen Zivilcourage, das manchmal in der Öffentlichkeit, am Arbeitsplatz oder im Privatleben nötig wäre, bringen viele von uns noch auf. Da könnte es helfen, sich derer zu erinnern, die ein Übermaß an Mut bewiesen haben. Ein zweiter, mindestens genau so wichtiger Grund, sich daran zu erinnern, ist: Darüber, dass in unserem Land seit sechzig Jahren jeder frei seine Meinung sagen darf, müsste man eigentlich vor Glück weinen. Wir nehmen unsere Demokratie als so selbstverständlich hin, dass wir vergessen, was für eine Kostbarkeit unsere Verfassung ist, und darüber vergessen wir dann auch, diesen Schatz zu hegen und zu pflegen. Und wir sollten uns über die Juden freuen, die unter uns leben oder bei uns einwandern – sie zeigen damit, dass sie uns wieder vertrauen. Was das bedeutet, kann nur ermessen, wer die Vergangenheit kennt.

Das Thema Nationalsozialismus ist Schwerpunktthema an den Schulen. Oft bekommt man von Schülern zu hören, dass sie des Themas überdrüssig sind. Was würden Sie ihnen antworten? 

Dass man dieses Themas irgendwann überdrüssig wird, kann ich gut verstehen. Mir ging es ja in meinem Leben selber so, wie ich weiter oben schon sagte. Aber dieses „Recht“, mal eine Weile in Ruhe gelassen zu werden, hat man erst, nachdem man sich eine Weile damit beschäftigt hat. Wenn schon die Erst-Beschäftigung mit diesem Thema Überdruss bereitet, dann stimmt etwas nicht. Entweder stimmt etwas nicht am Unterricht, oder es stimmt etwas nicht mit den Schülern, die das Ungeheure und Entsetzliche, das bis heute in unsere Gegenwart hineinragt, nicht packt, nicht erschüttert, nicht angreift, und nicht fragen lässt, wie so etwas geschehen konnte.

 

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