Religiöse, nehmt euch zurück!
SAMSTAG, 1. JULI 2017
GASTBEITRAG
Von Christian Nürnberger
Frei von Gedöns einfach seinen Glauben zu leben, ohne die anderen zu behelligen – das wär‘s
Religionen nerven. Sie hassen einander, bringen sich gegenseitig um, köpfen „Ungläubige“ vor laufender Kamera. Schiiten gegen Sunniten gegen Alawiten und alle gegen Juden und Christen. Hindus gegen Muslime. Fundamentalisten aller Religionen gegen Frauen, gegen Schwule.
Alle zusammen nerven besonders einen: den modernen, westlichen, einigermaßen aufgeklärten Durchschnittstyp, dessen absolute Wahrheit lautet, dass es keine absolute Wahrheit gibt. Und das, so dachte dieser säkulare Mensch noch bis vor kurzem, sei eigentlich Konsens, zumindest in Europa. Jeder soll nach seiner eigenen Façon selig werden, aber den anderen mit seiner Seligkeit in Ruhe lassen und nicht gleich von Islamophobie, Kirchenhass, Antisemitismus sprechen, wenn legitime Religionskritik geübt wird.
Aufgrund dieses Ruhebedürfnisses hat der „religiös Unmusikalische“ manch eigentlich intolerable Verhaltensweise großzügig als interessante Marotte einer Minderheit hingenommen, das Frauenverbot der griechisch-orthodoxen Mönche vom Berg Athos zum Beispiel. Seit fast einem Jahrtausend nehmen sie für sich das Recht in Anspruch, an der Eingangspforte ihres heiligen Berges den Frauen zu sagen: Ihr müsst leider draußen bleiben. Man muss sich einmal vorstellen, was in Europa los wäre, wenn die Mönche ihr Verbot geringfügig änderten: Juden haben hier keinen Zutritt. Oder Schwarze. Schwule. Rollstuhlfahrer. Da würden die Gerichte einschreiten. Nur bei Frauen, da geht’s. War ja schon immer so. Altehrwürdige Tradition. Muss man respektieren.
Aber mit dieser Gelassenheit geht es allmählich zu Ende, seit der moderne Säkulare bei sich daheim mit allerlei Forderungen konfrontiert wird, von denen er nicht recht weiß, wie er sich dazu verhalten soll: Kopftücher, Burkas, Minarette, Schächten, Speisegebote, Beschneidungen der Vorhaut, Beschneidungen der Meinungsfreiheit aus Rücksicht auf religiöse Gefühle, Kreuze raus aus den Schulen, Gebetsräume für Muslime rein, Tanzverbot am Karfreitag, keine Fußballspiele am Totensonntag – die Zahl der religiös bedingten Konflikte steigt mit der Zahl der Einwanderer, die ihre kulturellen Hintergründe mitbringen.
Was soll am Schwein unreiner sein als am Schaf?
Der Säkulare möchte damit eigentlich nicht behelligt werden, aber ist gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen, obwohl er nicht besonders bibelfest ist und vom Koran in der Regel überhaupt nichts weiß. Er versteht nicht, warum die Identität eines Mannes an dessen Vorhaut und die Ehre einer Familie am Jungfernhäutchen der Tochter hängen soll. Er weiß nicht, worum es beim Abendmahlsstreit zwischen Protestanten und Katholiken geht, auch nicht, was am Schwein unreiner sein soll als am Schaf. Er versteht nicht, wie ein fehlbarer Mensch des 21. Jahrhunderts anderen fehlbaren Menschen gestatten kann, sich als Papst, Imam oder Oberrabbiner in seine Essensgewohnheiten, ja sogar in sein Sexualleben einzumischen. Es fällt dem modernen Menschen schwer, solch einem Verzicht auf selbstständiges Denken den Respekt zu zollen, der von religiösen Autoritäten lautstark eingeklagt wird. Kritik an diesen Autoritäten, gar Spott, wird abgeschmettert mit dem Begehren, doch keine „religiösen Gefühle“ zu verletzen. Dass solch herrschaftliches Auftreten vielleicht die Gefühle säkularer Menschen verletzen könnte, darauf kommen die Herrschaften nicht.
Darum, Religiöse aus aller Welt, nehmt euch zurück. Hört auf, eure antiken Bräuche mit dem Kern eurer Religion zu verwechseln. Euer Kern ist bei Juden, Christen wie Muslimen derselbe: Nächstenliebe. Frieden. Teilen.
„Kirche für andere“ solle Kirche sein, hat der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer gesagt, ein „religionsloses Christentum“ hatte er gefordert. Das wäre es: Frei von allem religiösen Gedöns einfach seinen Glauben leben, ohne die anderen, den Staat und die Gesellschaft damit zu behelligen. Dann könnte es mit der multi-ethnischen, multi-religiösen, multi-kulturellen Gesellschaft vielleicht doch noch ein gutes Ende nehmen.
2. Juli 2017 @ 7:34
Sei dein/e eigene/r Herr/in und beflecke dich nicht mit einer schnöden Religion.
2. Juli 2017 @ 9:07
Lieber Herr Nürnberger, als Leiter des Pastorlakollegs der Ev.Kirche im Rheinland hatte ich das Vergnügen, sie im Umkreis von Hans Schlumberger kurz kennen zu lernen. Beinahe hätte es mit einer Einladung für ein paar Tage in das hoch gerüstete NRW geklappt. Macht nichts. Umso mehr hat mich ihre Abrechnung mit der Religion gefreut. Der Barthianer in mir kam hoch : ” Religion ist Unglaube” ( § 17 der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth) Beste Grüße! Ihr Heiner Süselbeck
2. Juli 2017 @ 13:11
Super Herr Nürnberger, Sie sprechen mir aus dem Herzen!
2. Juli 2017 @ 14:23
Freut mich, danke Gesa Kettler.
2. Juli 2017 @ 13:46
Gerade jene, die ihren Glauben radikal vertreten, sind sich nicht darüber im klaren, dass es reiner Zufall ist, in welchem Teil der Erde wir geboren worden sind.
Und die Nächstenliebe ist in jeder Religion gefordert! Warum also handeln wir nicht danach?
2. Juli 2017 @ 14:25
Ja, allein schon dieser Gedanke, dass das, was man glaubt, eine Funktion des Kulturkreises ist, in den man hineingeboren wird, müsste so viele Zweifel und Reflexionen generieren, dass man gar nicht anders kann, als die anderen auch gelten zu lassen.
2. Juli 2017 @ 14:37
Vielen Dank für dieses treffende Auf-den-Punkt-bringen. Ganz ähnlich sind meine Beobachtungen auch meiner Person: ich beschäftige mich mit Ideologien, die mich eigentlich überhaupt nicht interessieren, die sich aber in unser Leben eingemischt haben. Liebend gerne hätte ich auf die – ausgezeichnete – Lektüre von Richard Dawkins oder Michael Schmidt-Salomon verzichtet, fühlte ich mich nicht dazu genötigt durch die wachsende staatliche Präsenz des Klerus. Hamed Abdel Samads Beschreibungen des islamischen Faschismus sind profund, allerdings berührt mich eigentlich weder der Islam noch der Hinduismus, weder Jahwe noch irgend ein anderer Gott. Die Religiösen werden uns nicht in Ruhe lassen, deshalb müssen wir uns wohl oder übel weiter mit ihnen befassen.
2. Juli 2017 @ 15:02
Super!
Ich finde es zB auch anstrengend, dass mittlerweile auch Parteien wie die SPD und die LINKE von Gläubigen beider Konfessionen in einer Weise unterwandert werden , die gerade nichts mit den Zitaten von Karl Barth und Bonhoeffer zu tun hat – da wird gefrömmelt und geschwurbelt – von christlichen und allg. religiösen Werten – und der Laizismus schon beinahe als gefährlich für die Gesellschaft behandelt. “Die glauben an nichts” – arme Geschöpfe…
Das empört mich geradezu.
2. Juli 2017 @ 16:54
Das sollte Pflichtlektüre werden, für alle. Und dann in jeder Prüfung abgefragt und benotet werden… 3:)
2. Juli 2017 @ 17:15
Genialer Beitrag. Danke. I love it.
2. Juli 2017 @ 17:36
Sie schreiben: “Frei von allem religiösen Gedöns einfach seinen Glauben leben…“ Als bekennender Christ muss ich Ihnen da voll zustimmen. Glaube ist nicht gleich Religion. Und wenn man seinen Glauben ernst nimmt, dann lebt man gemäß der Bibel. Und dort liest man, dass der letzte Befehl, den Jesus seinen Nachfolgern gab, der folgende war: “Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern…“ Wie kann man diesen Auftrag ignorieren, wenn man Christ ist? Wenn man ihn bewusst ignoriert, ist man meiner Meinung nach wahrer Christ.
2. Juli 2017 @ 17:38
Sollte heißen “…kein wahrer Christ“
2. Juli 2017 @ 21:13
Islam ist Ideologie.
Religion ist verfasdungsrechtlich geschützt, Ideologie nicht.
Religion ist Rückbindung des Individuums an Gott, das kann man auch barthianisch nicht kritisieren.
Evangelisch ist in der Tat Zeitgeist, mal Nazi, mal Demokratie, mal Merkelismus.
Bleibt das, was mir wichtig ist. Damit will ich Sie nicht belästigen, wie Sie es mit Ihrer Auffassung tun.
3. Juli 2017 @ 7:10
Wenn Islam Ideologie ist, ist er als keine Religion und nicht verfassungsrechtlich zu schützen? Verstehe ich Sie da richtig? Und was die “Belästigung” betrifft, habe ich Sie gezwungen, diesen Artikel zu lesen? Habe ich mich in Ihr Privatleben eingemischt? Habe ich von Ihnen persönlich irgend etwas gefordert? Oder empfinden Sie es als Belästigung, religiösen Menschen zu sagen, sie möchten bitte den säkularen Staat nicht überfordern und die säkulare Gesellschaft nicht überstrapazieren?
3. Juli 2017 @ 18:16
Chapeau lieber Herr Nürnberger,
dass ich Ihnen einmal vom ersten bis zum letzten Buchstaben zustimme, habe ich eigentlich nie geglaubt.
Bei diesen Artikel kann ich aber nicht ander. 🙂
Dankeschön!
4. Juli 2017 @ 21:17
das mit der Pflichtlektüre fände ich auch gut und richtig…. Danke, ein toller Artikel…. allerdings bin ich´s von Ihnen auch nicht anders gewöhnt…. es ist so wichtig zu wissen, wo die Menschen sind, die einem aus der Seele sprechen!
8. Juli 2017 @ 16:03
Sehr geehrter Herr Nürnberger,
Vielen Dank für Ihren Beitrag. En détail haben Sie oft recht, v.a., was die schädlichen Auswirkungen des Fundamentalismus innerhalb der Religionen betrifft. Fundamentalismus ist m.E. kein Phänomen der Antike oder des Mittelalters, sondern eines der Moderne, gewissermassen ihre dunkle Kehrseite. Man darf nicht nur, man muss sogar dagegen Stellung beziehen. Einige Ihrer Worte sprechen mir wie sicher vielen Menschen Westeuropas angesichts aktueller Nachrichten aus der Seele.
Was mich aber massiv an Ihren Formulierungen stört: Sie schütten das Kind bewusst mit dem Bade aus. Nicht missverstehen: Religionskritik darf und muss sein. Sie hat ihre Berechtigung ebenso wie Kritik an jeder anderen Weltanschauung oder Überzeugung, z.B. am Marxismus, an sozialdarwinistischen Vorstellungen, am Utilitarismus usw. Aber wenn Religionskritik pauschalisiert, dann wirkt sie lächerlich und unwissend, und damit ebenso ideologisch gefärbt. Und Sie pauschalisieren ganz bewusst gleich im ersten Satz: “Religionen … hassen einander …”. Nein! Dieses und ähnliche Etiketten werden wir nicht tragen. Solche Behauptungen werden auch nicht wahrer, in dem man sie tausendfach wiederholt.
Das westeuropäische Christentum, namentlich die evangelischen Kirchen in reformierter und lutherischer Tradition, haben einen langen Transformationsprozess durchgemacht. Sie selbst haben D. Bonhoeffer gewürdigt – er stand und steht nicht allein. Aufgeklärtes Denken, private Frömmigkeit und öffentliches und gemeinnütziges Wirken in Politik und Diakonie sind schon lange kein Gegensatz mehr. Es gibt genügend Beispiele friedensschaffenden und gesellschaftlich wertvollen Handelns von Christen und Kirchen. Evangelisch sein, das heisst für mich frei zu denken, in Freiheit zu glauben und die Gesellschaft als mündiger Bürger mitzugestalten.
Mit freundlichen Grüssen
Jörg Lanckau
23. November 2017 @ 12:42
Sehr geehrter Herr Lanckau,
natürlich behaupte ich nicht, dass alle Religionen einander hassen. In dem Satz “Religionen hassen einander” steht ja auch kein “alle” – und dass ich das wirklich nicht meine, geht aus den nachfolgenden Sätzen ja durchaus hervor. Im übrigen gibt es etliche Bücher von mir, die alle eine große Sympathie fürs Christentum, fürs Judentum bezeugen, und mein letztes Buch, über Luther, lobt ausdrücklich die Protestanten. Wenn man jedoch nur 4000 Zeichen hat, wie in dem Artikel, an dem Sie Anstoß nehmen, dann kann man sich nicht so differenziert äußern, wie es der Sache angemessen wäre, sondern man muss das Gegenteil tun: zuspitzen, um eine Debatte in Gang zu setzen. In Wahrheit liegen wir also näher aneinander, als Sie vielleicht denken.
mit besten Grüßen
Christian Nürnberger