…WER HAT UNSEREN KINDERN EIGENTLICH DAS FLUCHEN BEIGEBRACHT?
Seit einigen Wochen mühe ich mich, den Gebrauch des Wortes “Arschloch” zu minimieren und sinniere, ob ich es vielleicht ganz aus meinem Wortschatz streichen soll, vielleicht in einem Aufwasch mit dem “Wichser” und der “Scheiße”.
Es fing damit an, dass ich vor einigen Wochen, als alle über “Erfurt” sprachen, mit meinem neunjährigen Moritz Tischtennis spielte und er mich nervte, weil er bei jedem Fehler “Scheiße” rief. Scheiße hat, wie Hans Magnus Enzensberger in seinem gleichnamigen Gedicht bemerkte, etwas eigentümlich Sanftes, Nachgiebiges, Gewaltloses und Friedfertiges an sich. Noch vor fünf Jahren hätte ich darum wahrscheinlich, Enzensberger gedenkend, minutenlang überlegt, ob ich meinem Kind das Wort einfach so ohne Begründung verbieten könne, hätte unkonzentriert gespielt, verloren und ihm dann aus Rache und Wut den Gebrauch des Wortes untersagt.
Aber man reift ja als Erzieher, deshalb musste ich überhaupt nicht überlegen und habe ihm – scheiß auf den Enzensberger – das Wort einfach verboten. Dass es mich nervte, war Begründung genug. Jetzt sagt Moritz “Mist”, wenn der Ball danebengeht. Was an Mist besser ist als an Scheiße? Keine Ahnung. Aber ich bin zufrieden.
Wenige Wochen vor der Ächtung dieses Wortes beim Tischtennis hatte ich Moritz heftig gerüffelt, weil er seine Schwester Livia als “Arschloch” titulierte. Livia, immer darauf erpicht, von ihren Eltern Begründungen für alles zu hören, hielt mir vor: “Du benutzt das Wort doch auch.”
Es ist wahr, immer wenn ich einen bestimmten Politiker im Fernsehen höre, ich muss ihn gar nicht sehen, brülle ich durchs Haus: “Macht den Fernseher aus, ich kann das Arschloch nicht ertragen.” Und neulich, als meine Frau mich fragte, ob wir diese bestimmte Talkshow aufzeichnen sollen, sagte ich: “Ach was, da hocken doch eh immer die selben Wichser mit ihrem ewiggleichen Geseiche herum.”
Jetzt stand ich blöd da vor meiner Tochter.
“Es ist etwas anderes, ob wir uns in der Familie gegenseitig als Arschlöcher titulieren oder ob ich das über irgendeinen Berufstalker so leicht dahinsage”, eierte ich rum, “in der Familie geht das einfach nicht, und außerdem, dieser Politiker, Ihr-wisst-schon-wer, der ist einfach wirklich ein Arschloch.”
Livia wollte weiterdiskutieren, kam altklug mit Goethes Götz- Zitat daher, aber ich hatte einen Termin, musste weg und hoffte, die Sache werde irgendwie versanden. In mir selbst arbeitete es aber weiter. Was habe ich plötzlich gegen Wörter, die auszusprechen in meiner Kindheit sich nicht geziemte, die dennoch auszusprechen gerade deshalb ab dem Jahr 1968 zur revolutionären Mode wurde? Warum erkläre ich diese Wörter für meine Kinder nun wieder zu Bähwörtern?
Vielleicht zunächst nur, weil es nie verkehrt ist, alte Gewohnheiten zu überprüfen. Vielleicht, weil ich schon vor Jahren ein ungutes Gefühl hatte, als die Kinder die “Fotze” und das “Ficken” aus dem Kindergarten mit nach Hause brachten. Vielleicht, weil mich das Gefühl beschleicht, dass da etwas eingerissen ist. Oder werde ich einfach nur konservativ, also alt?
War es nicht befreiend, als vor 30, 35 Jahren von den Bühnen he- rab das Wort “Scheiße” ins Publikum geschrien wurde? In meiner WG haben damals die Söhne von Richtern, Generälen und Industriellen ungeniert gerülpst, nachts ins Waschbecken gepinkelt und nur ich, das einzige Arbeiter- und Bauernkind, fühlte mich davon gestört, aber wenn ich etwas sagte, hieß es: “Hör auf mit dieser kleinbürgerlichen Scheiße.”
Ich war eben noch in einem “falschen Bewusstsein” befangen, konnte mir aber trotzdem erklären, warum meine Kommunarden, die Großbürgerssöhne, über das “richtige Bewusstsein” verfügten: Sie hatten soeben herausgefunden, dass ihre Väter, die ihnen den Gebrauch von Bähwörtern verboten haben, in ihrer Jugend “Judensau” gebrüllt und “Kauft nicht beim Juden” an die Fensterscheiben von Läden geschrieben hatten. Danach wurden Fensterscheiben zertrümmert, Läden geplündert, deren Besitzer durch die Straßen getrieben und ein paar Jahre später waren sechs Millionen Juden tot.
Und von deren Mördern, von denen die wenigsten je bestraft worden waren, sollten sich junge Leute vorschreiben lassen, was schicklich ist? Nein, diese Generation, die den halben Erdball verwüstete, hatte ein für allemal verschissen, egal ob sie aktiv mitgemacht, zugeschaut oder bewusst weggeschaut hatte. Diese Leute wollten wir nur noch provozieren mit unserer anstößigen Sprache, unseren schlechten Manieren, unseren langen Haaren, unserer unkultivierten Kleidung, unserer “Negermusik”, unserem antibürgerlichen Lebensstil.
Weil wir selber nicht zimperlich waren, störte ich mich auch nicht wirklich an Politikern wie Franz Josef Strauß, zumal ja als Gegenmittel Herbert Wehner existierte, der den Abgeordneten Wohlrabe gelegentlich als “Abgeordneter Übelkrähe” bezeichnet hatte. Und noch heute erzählt man sich schenkelklopfend, Wohlrabe habe sich einst beschwert, dass es bei namentlichen Abstimmungen im Parlament nach dem Alphabet gehe und er deshalb immer ganz zuletzt dran- käme, worauf Wehner ihm gesagt haben soll, er möge sich in “Arschloch” umbenennen, dann sei sein Problem gelöst. >
Aber merkwürdig, in dem Maße, in dem bei uns nach 68 Höflichkeit und gutes Benehmen als spießig galten, wuchs der Bedarf an Political Correctness, vor allem in jenen Milieus, die sich aus der 68er-Bewegung entwickelt hatten. Plötzlich durfte man Mongoloide nicht mehr als Mongoloide bezeichnen, sondern musste von “Menschen mit Down-Syndrom” sprechen. Der “wissenschaftlich unhaltbare Begriff Rasse” wurde durch die “Herkunft aus einem anderen Kulturkreis” ersetzt, in der die Superkorrekten aber auch schon wieder nur Ab- und Ausgrenzung sahen, sodass man eine Zeit lang überhaupt nicht mehr wusste, wie mit Indern, Chinesen und Arabern sprachlich korrekt zu verfahren sei.
Da empfanden es viele hierzulande wie eine Erlösung, als Harald Schmidt und Herbert Feuerstein mit dieser Belästigung aufräumten und in Schmidteinander frauen-, polen-, neger- und behindertenfeindliche Witze rissen. Aber neulich hörte ich unseren Neunjährigen seinen Freund beschimpfen mit dem Wort: “Du Behinderter.” Ich fragte ihn, woher er das Wort habe, was er damit meine und ob er überhaupt verstehe, was er da gesagt hatte. Natürlich verstand er nichts. Er hatte es aus der Schule. Alle seine Freunde sagten es, behauptete er.
Nach einem längeren Gespräch, auch mit seinen Freunden, war das Wort offenbar wieder aus der Welt. Jedenfalls fragte ich ihn vor kurzem, ob es noch benutzt würde. Er verneinte. Den Anlass meiner Nachfrage lieferte mir eine Berliner Freundin, die berichtete, dass an der Schule ihres Kindes ein neues Schimpfwort kursiert: “Du Opfer.”
In diese Situation platzte ein Brief von Moritz’ Grundschule. Die Direktorin berichtete darin, dass in der “Hexennacht”, also in der Nacht zum 1. Mai, Schüler und Jugendliche den Schulhof verwüstet, die eigene Schule verdreckt und mit obszönen Schmierereien an den Fens-terscheiben die Lehrer beleidigt hätten, und forderte deshalb die “betroffenen Eltern” zu einem Gespräch auf. Gerade nach “Erfurt” halte sie es für richtig, über so etwas nicht stillschweigend hinwegzugehen.
Ich war auch “Betroffener”. Moritz hatte ein Ei gegen die Schultür geknallt. Ausgerechnet das Kind von diesen zwei Journalisten, die anderen Leuten erklären, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben…
Das Gespräch zwischen Lehrern und Eltern war heftig. Die Eltern verwahrten sich gegen die Verbindung dieser “harmlosen Kinderstreiche im Rahmen des Brauchtums” mit dem Massaker in Erfurt. Die Lehrerinnen insistierten hingegen, sie wollten sich nicht mit obszönen Ausdrücken beleidigen lassen, Die Eltern fanden, dass die Lehrer völlig überzogen und hysterisch reagierten und fragten: “Haben Sie nie gesagt, dieser oder jener Lehrer sei blöd?”
Die meisten der Eltern, die da saßen, waren jünger als ich, keine 68er mehr und doch vom Geist der 68er beseelt, der Eltern denken lässt: Wir und unser Kind lassen uns von keiner Autorität einschüchtern. Wir halten nichts von betulich-konservativ-gouvernant-bildungsbürgerlichen Erziehungshubern. Wir wollen, dass unser Kind stark und selbstbewusst wird und mit aufrechtem Gang durch seine Schulzeit geht. Der Rebell steht uns näher als der Untertan.
Doch nicht jeder, der irgendeiner Autorität auf den Teppich kotzt, ist ein Rebell. Die Schule als verlängerten Arm des Obrigkeitsstaates und den Lehrer als Hilfspolizisten gibt es schon lange nicht mehr und an widerborstigen Schülern mangelt es nicht. Heute antworten Kinder einem Sportlehrer, der sie auffordert, die Turngeräte wegzuräumen, ihre Eltern hätten ihnen gesagt, dass sie sich so eine “Zumutung” nicht gefallen zu lassen brauchen.
Heute kann es vorkommen, dass ein Erstklässler mit Fäusten auf seine Lehrerin einschlägt und gleichzeitig, gut geschult von seinen Mittelstandseltern, schreit: “Du darfst mich nicht anfassen.” Heute müssen Lehrer aufpassen, dass sich nicht stets der rücksichtsloseste Rüpel gegen alle anderen durchsetzt. Heute bräuchten wir eine Diskussion darüber, ob das von der Wirtschaft geforderte Führungsmerkmal “Durchsetzungsvermögen” wirklich schon in der Schule trainiert werden muss.
Stattdessen überlegt man sich als Eltern, ob man seinen Kindern eigentlich einen Gefallen tut, wenn man sie zu Höflichkeit, Rücksicht und Freundlichkeit erzieht, während draußen der Konkurrenzkampf tobt und die Ellbogenmentalität die größten Erfolge feiert. Sind nicht Rücksichtnahme und Höflichkeit Wettbewerbsnachteile?
Wir ergrauten 68er, die wir vor dreißig Jahren fast gefahrlos bis nach Indien trampten, wir nehmen achselzuckend hin, dass unsere Kinder auf dem Schulhof, dem Schulweg, an der Bushaltestelle und in der Disco Angst haben vor Gewalttätern ihres Alters. Deshalb lassen mich die Kälte und der raue Umgangston in unserem Alltag nicht mehr kalt. Es ist an der Zeit, unsere seit einem Vierteljahrhundert unhinterfragten Ansichten über Erziehung zu überprüfen.
Man wird dann sehen, dass der Geist von damals nicht mehr zur total veränderten Realität in Elternhaus, Schule und Gesellschaft passt, dass man also den von uns 68ern so geschätzten “Tabubruch” neu bewerten muss. “Tabubrecher”, die aussprechen, was alle denken, aber nicht zu sagen wagen, genießen noch immer ein hohes Ansehen. Aber was ist, wenn plötzlich einer wie Möllemann sagt, die Juden seien selbst schuld am Antisemitismus? Dann kommt Leben in den braunen Bodensatz, dann hagelt es Parteieintritte, aber kaum Austritte, dann wird die Beleidigung als “Tabubruch” gefeiert und es ist völlig egal, dass die 100000 unter uns lebenden Juden entsetzt sind. Weil die Gedanken frei sind, meinen manche, auf den Gefühlen anderer herumtrampeln zu dürfen.
Angesichts solcher Ungeheuerlichkeiten wirkt es läppisch, sich über den Gebrauch des Wortes “Scheiße” zu erregen. Aber wer Kinder zu erziehen hat, muss ihnen ja irgendwie beibringen, dass man auf seine Wörter zu achten hat; der Widerstand gegen die Brutalisierung des Alltags beginnt mit dem Widerstand gegen die Brutalität der Sprache. Der Sinn für Sprache verkümmert in einer Fernsehwelt, in der für komplizierte Sachverhalte maximal eine Minute und dreißig Sekunden zur Verfügung stehen. Die Sprache verkümmert weiter, wenn Kinder vor Computer- und Videospielen geparkt werden, für deren Kommen-tierung die Wörter “krass”, “cool”, “geil”, “genial”, “megaout” oder “Scheiße” mehr als ausreichend sind. Das Unterscheidungsvermögen schrumpft in dem Maß, in dem der Wortschatz schrumpft, und dann kommt es eben so weit, dass ein heilsamer Tabubruch nicht mehr von einer unheilstiftenden Beleidigung unterschieden werden kann.
Das Wort “Scheiße”, in einer hochsprachlich-anspruchsvollen Rede gezielt gesetzt, kann eine ungeheure Wirkung entfalten. Darum werde ich es nicht ganz aussondern, nur aufbewahren, für den Notfall. Ich stecke es, zusammen mit anderen, in den Giftschrank, um es in seltenen Fällen herauszuholen.
Süddeutsche Zeitung, 12.07.2002
Schreibe einen Kommentar